"Was in den Bewußtseinsdisziplinen und in der Transpersonalen Psychologie als Erwachen bezeichnet wird, ist eine fortschreitende Disidentifikation von mentalen Inhalten im allgemeinen und von
Gedanken in besonderen. Für die meisten ist das ein langsamer und mühsamer Lernprozeß, in dem sich die Wahrnehmung allmählich verfeinert und immer feinere Schichten der Identifikation freilegt.
Schließlich identifiziert sich die Bewußtheit mit nichts mehr ausschließlich. Das ist ein radikaler und andauernder Bewußtseinszustand, für den die Bezeichnungen Erleuchtung oder Befreiung die
geläufigsten sind. Wo es keine ausschließende Identifikation mehr gibt, bricht die Grenze zwischen Ich und Nicht-Ich zusammen und man erfährt sich selbst als Nichts und Alles. Man ist Reine
Bewußtheit (Nichts) und das ganze Universum (Alles). In diesem höchsten Zustand reiner Bewußtheit gibt es keinerlei Identifikation mehr, auch nicht mit dem Wandel. Da Zeit aber eine
Begleiterscheinung oder Funktion des Wandels ist, lebt man jetzt außerhalb der Zeit: Man hat sie transzendiert. Zeit wird als Ewigkeit oder besser Zeitlosigkeit erfahren, die Zeitlosigkeit des
Ewigen Jetzt, und aus dieser Sicht ist Zeit nur noch Illusion, nämlich Produkt der Identifikation. Ein Mensch, der sich so als reine Bewußtheit erfährt, – eins mit allem und doch nicht identisch
mit irgend etwas –, fühlt sich auch eins mit allen anderen Menschen. Wenn nichts mehr existiert als das Eine Selbst, wird der Gedanke, 'anderen' zu schaden, schlicht sinnlos und kann daher gar
nicht mehr aufkommen. Die natürliche Ausdrucksform dieses Zustands ist Liebe und Mitgefühl für andere."
Roger N. Walsh & Frances Vaughan: Psychologie in der Wende (1980)
Wenn aber nun das gesamte Ziel konventioneller Psychotherapie darin besteht, ein stabiles und starkes Ich aufzubauen, während DAS ICH an sich laut spiritueller Denkansätze nur eine Illusion sei, dann verfehlt jede Therapie ihr Ziel bereits in der Voraussetzung und stabilisiert letztlich nur eine Illusion! Dieser potenzielle Skandal unserer gesundheitsfanatischen Gesellschaft wird von der Psychiatrie indirekt (ohne vorsätzliche Verschwörung) dadurch tabuisiert, daß ihre Repräsentanten ebenfalls "über ein stabiles Ich verfügen" und darum selber nur dieses ichzentrierte Selbstbewusstsein kennen. Wie funktioniert aber ein starkes Ich eigentlich praktisch?
Ausgehend von der Erkenntnis, daß das Ich "in der Mitte" eine Illusion ist, wird deutlich, daß die Herstellung von Balance und Stabilität im personenzentrierten Ichsystem darin besteht, daß in Wirklichkeit irgendein dominanter Ichanteil alle anderen kontrolliert und sich selbst dadurch suggeriert, er sei in einer stabilen Mitte verankert oder verwurzelt und bilde den Persönlichkeitskern. Formelhaft lässt sich diese hypnotische Selbstlüge in den Sätzen "ICH BIN ICH" (also: ein Ichanteil definiert alle anderen als seine Person) bzw. "ICH HABE MICH" (also: ein Ichanteil kontrolliert alle anderen als seine Person) ausdrücken und verrät damit bereits den urschizophrenen Charakter des Selbstwertgefühls: aus einem bestimmten Blickwinkel, der sich wie eine "innere Stärke" anfühlt, nimmt sich der Mensch durch seine Ichbrille "selbst" wahr, indem ein bestimmter verabsolutierter (in die Mitte der Aufmerksamkeit gerückter) Hauptichanteil alle anderen Ichanteile beobachtet und diese in ihrer Gesamtheit als seine Persönlichkeit definiert, während der zentrierte Ichanteil sich selbst als ichtranszendente Mitte empfindet, aus der heraus die Person erlebt und erschaffen wird.
Die Psychosynthese geht sogar so weit, diese illusionäre Ichmitte als "leeren Beobachter" in ihr Konzept aufzunehmen und dem Patient zu suggerieren, er könne als Ich in einer Mitte ankommen und darin ruhen, um sich selbst aus diesem wildstillen Zentrum des psychischen Orkans heraus als konkrete Person zu reflektieren. Während also die herkömmliche (kassenärztlich zugelassene) Gesprächstherapie gänzlich verschweigt, daß DAS ICH eine Illusion ist und darum bemüht ist, diese Illusion irgendwie zu stabilisieren, damit der Mensch wieder alltagstauglich und dadurch arbeitsfähig wird, übertreibt und überhöht die Psychosynthese die Idee einer ichfreien Mitte, um die Stabilität letztlich einfach nur anders herzustellen: in einem angeblich "transpersonalen" Zentrum, das je nach Ausrichtung auch religiös interpretiert werden kann. Beide Hauptrichtungen, Analyse genauso wie Synthese, verwehren dem Patient die viel größere Chance, sein Ich zu DURCHSCHAUEN und gänzlich aufzulösen und in dem tieferen, tiefenorganischen, sinnlichen SEINSGEFÜHL anzukommen, das kein Ich und kein Denken benötigt, um stark und stabil zu sein! Dieser weitere Skandal ist die katastrophale Folge des ersten Skandals der Tabuisierung des illusionären Charakters des Ichs und führt dazu, daß unsere Gesellschaft vom Ansatz her bereits krank und kaputt bleiben wird, weil sie nur ichgläubige "Surrogates" schafft (Roboterkörper mit virtuellem Bewusstseinskern), die sich gegenseitig kontrollieren, indem sie je nach Ideologie einen beliebigen Ichanteil für ihre Sache bevorzugen und gegen andere Ichanteile ausspielen.
Ein ichbefreiter Mensch ruht weder in einer leeren noch in einer religiös gefüllten Mitte, sondern bewegt sich wie eine Welle im Ozean durch alle Ichströmungen, ohne überhaupt darüber nachdenken zu müssen, welches Ich JETZT von Vorteil wäre und welches vielleicht krank oder unerwünscht. Das gesamte Ichsystem hat sich als urschizophrenes Denksystem einer narzistischen Selbstreflektion entpuppt, die sich einfach in Luft auflöst, wenn der Mensch nicht mehr vom Denken allein lebt. Absurderweise stimmt Descartes schlauer Satz "ich denke, also bin ich" in diesem befreiten Zustand noch immer, denn er sagt jetzt nichts anderes als daß DAS DENKEN DAS ICH ÜBERHAUPT ERST ERZEUGT! Ich plädiere daher für eine progressive Diskussion in der Psychiatrie über die Möglichkeiten, Psychosen und Depressionen nicht durch Stabilisierung der Ichillusion in den Griff zu bekommen, sondern durch alternative Methoden der Rückkehr in ein enttraumatisiertes Körpergefühl, das sich jenseits des Denkens als geradezu mystisches SEINSGEFÜHL definieren lässt, ohne überhaupt irgendeiner Ideologie anzugehören. Denn der Mensch, der seine Existenz ohne Ichbrille von innen fühlt, ist nicht nur ichbefreit sondern dadurch auch ideologiebefreit und damit wesentlich offener, mitfühlender, erfahrungsbereiter und experimentierfreudiger als jeder noch so humanistisch programmierte Ichanteil, der als "wahre Mitte" verabsolutiert wird. Ein ichbefreiter Mensch HAT keine Psychosen, denn nur einzelne Ichanteile können psychotisch oder depressiv sein. Der Mensch als ganzes ruht in seinem unzerdachten TanZEN durch den Seinsstrom und kann seine depressiven Ichanteile dadurch schmunzelnd begutachten wie jedes andere Objekt seiner Wahrnehmung. Psychosen sind dann nicht mehr lebensbedrohliche, unkontrollierbare Monster, die durch Medikamente betäubt werden müssen, sondern es sind lediglich unbequeme Ichtendenzen, mit denen sich der Mensch nicht mehr identifiziert! Die totale Disidentifikation des Bewusstseins von seinen eigenen Inhalten ist eine gesundheitsfördernde Nebenwirkung der Ankunft im ichbefreiten Körpergefühl.
Eine zeitgemäße Psychologie muss sich fragen, mit welchen Methoden ein solches enttraumatisiertes, tiefenentspanntes Körpergefühl erreicht werden kann, anstatt ständig nur die Balance zwischen kranken und gesunden Ichanteilen herstellen zu wollen. Wer zum Weltfrieden beitragen will, muss sich vergegenwärtigen, daß auch unsere Spitzenpolitiker ebenso wenig wie der normale Bürger gelernt haben, IN IHREM KÖRPER ANZUKOMMEN, sondern die Welt immer nur durch eine mehr oder weniger billige Ichbrille beeinflussen. Die Vorstellung, was für eine witzige, komödiantische, satirische Figur Menschentypen wie Trump oder Putin beim MEDITIEREN abgeben würden, rührt doch genau daher! Wir spüren auch als psychologisch ungebildete Normalos sofort, daß es absurd wirkt, sich Trump als eine Art Zenmönch vorzustellen, weil ein Mensch, der so sehr in seinem narzistischen Selbstgedanken verankert ist, daß er im Grunde gar nichts mehr ohne Ichbrille fühlt, nicht meditieren KANN. Meditation heisst nämlich Nichtdenken, Nichtreflektieren, Nichtdefinieren, Nichtkontrollieren, sondern dem puren Fluss der WAHR-Nehmung folgen. Ich wünsche mir insgeheim (Achtung: romantisch, unrealistisch und superpeinlich!), daß die Psychologen und Philosophen unserer Zeit endlich anfangen, Konzepte zur Förderung der ichbefreiten Weltwahrnehmung zu entwickeln, die schon im Grundschulalter den dort bereits ichverseuchten Kindern eine Chance bieten, ihr lebendiges, mitfühlendes Menschsein wieder zu entdecken, das zum gemeinsamen Spielen und Spaßhaben anregt, um den WELTFRIEDEN bereits dort zu üben, wo er in den Familien schon durch die kaputten und kranken Ichbrillen der Eltern unterdrückt und im Vorfeld zerstört wird...
AUTOR: Tom de Toys
ORIGINALQUELLE: eBook "Nahzone", 2017
Absätze und Hervorhebungen in Absprache mit dem Autor.