Als ich die Einladung der LDL in meiner Emailbox finde, ist es der 16.11.2017, der 44. Todestag von Alan Watts, und ich komme gerade von der Beerdigung meines Urgroßcousins, der viel zu früh an einem Krebs verstarb. Da ich derzeit unter einem Bandscheibenvorfall leide, ist dieser Ausflug zum Friedhof mit Schmerzen verbunden. Sitzen ist nicht lange möglich. Bewegung tut weh. Und das Stehen verstärkt den Schmerz ebenfalls. Letztlich ist also JEDE Bewegung riskant und am liebsten läge ich nur den ganzen Tag mit hochgelagerten Beinen in Schonhaltung im Bett. Aber selbst das ist riskant, denn Bewegung ist wichtig, um die Muskulatur zu entspannen und die Wirbel langsam wieder in die richtige Position zurück zu schieben. Worauf ich hinaus will (denn es soll nicht als Jammern auf hohem Niveau mißverstanden werden): das Leben an sich ist riskant, jede Position eines Körpers (egal ob bewegt oder ruhiggestellt) kann Schmerzen und Tod erzeugen, das Dasein ist EMPFINDLICH und doch auch robust und zäh und hart im Nehmen. Der Körper ist eben "da" und mit ihm dieses Ich, das sich als körperlich anwesend entdeckt und versucht, das Beste daraus zu machen. Verschont wird keiner. Jede Schonhaltung erweist sich als relativ günstig UND ungünstig zugleich in bezug auf verschiedene Kontexte, so daß "Gesundheit" (eine aus Sehnsucht nach festgefrorener Ewigkeit geborene idealistische Hohlformel wie "Gott"!) letztlich auch nur als ein gnadenlos-grundloses Akzeptieren permanenter Positionswechsel erfahrbar wird. Wer Schmerzen kennt, weiß wie es sich anfühlt, zum Leben trotz aller Quälerei JA zu sagen. Warum sagt man JA: WEIL MAN "IST". Und WER sagt "ja"? Niemand. Der denkende Körper sagt selber JA. Niemand wohnt "in" dem Körper. Da ist keine Seele, kein Selbst und kein Ich irgendwo tief da drinnen, als wäre der Körper nur ein Kostüm, das ein Rätsel versteckt. Da ist Körper und DER schmerzt. Aber das Ja kommt nicht von woanders, sondern weil keiner den Schmerz von außen beobachtet und denkt: "ist der Schmerz gut oder schlecht für mich?" Dieses MICH hat sich irgendwann als eine grammatikalische Illusion entpuppt - unter dem Kostüm aus Haut und Knochen zeigte sich NICHTS, eine gähnende Leere, das Bewusstsein schaut quasi durch sich selbst hindurch und es macht "plopp" und der ichhafte Zeuge des Ganzen verpufft in der hohlen Materie. Das nenne "ich" auch schon lange Lochismus. Die Verwendung des Wortes ICH bekommt eine andere, neue Qualität: nicht mehr als eine Zentrale, die alles kontrolliert, sondern als das, was die Sinne empfangen. Ich bin da geprägt von den beiden allerersten philosophischen Büchern, die ich in meiner Jugend von meinem Meditationslehrer empfohlen bekam: das "ICH UND DU" von Martin Buber, gemischt mit dem "HABEN ODER SEIN" von Erich Fromm. Aus der Fusion beider Werke entstand dieses Gefühl, daß beim Du-Sagen das Ich automatisch erzeugt wird und sich mit jedem Du wie eine Strömung in ein neues Ich verwandelt. Das Leben ist einfach diese umfassende, unendliche Strömung, die Begegnung, Verschmelzung, Zerspritzung und Verdampfung von Tropfen erzeugt. Das ist ein rein körperliches Gefühl, dazu bedarf es kein extra Ich, das sich das ausdenkt, um spirituell fortgeschritten zu wirken. Da ist niemand mehr, der einen Fortschritt oder ein Ziel sucht, um daraus den Sinn des Lebens abzuleiten. Da ist nur das ständig zerfließende Jetzt, das die Begegnung der Materie mit sich selbst erzeugt. Das habe ich vor einigen Jahren in einem Gedicht mit dem Titel "ÜBERDU" festgehalten. Was soll ich noch mehr dazu sagen? Die Psychosynthese war nur ein kleiner Schritt im Prozess dieses Menschen, der seine Schmerzen zunächst gar nicht spürte, weil er ein "echtes", supertolles Ich HATTE, das diese Schmerzen verdrängte, indem es sich ANDERE Gedanken machte (siehe dazu mein ausführlicher Gastbeitrag über die Spiri-Psychose) als die, die das Jetzt selbst generiert. Nach zahlreichen Schmerzepisoden mit ebenso vielen Therapiemethoden (aufgrund der Diagnose "somatoforme Schmerzstörung") passierte am Ende einer waschechten Depression endlich das "Plopp!" und die Extragedanken waren dank einer sich schleichend bemerkbar machenden totalen Disidentifikation wie ein böser Spuk plötzlich verschwunden (siehe dazu mein ausführlicher Gastbeitrag über die Namenfreiheit) und der Schmerz wurde gespürt. Aber nicht nur der Schmerz sondern auch ALLE ANDEREN Sinnesempfindungen waren in das Bewusstsein zurückgekehrt. Ganz besonders die Liebesfähigkeit und das Loslassenkönnen. Das große JA zu allem, was und wie es passiert, WEIL es nicht anders passiert. Weil es das echte Leben ist. In der Psychosynthese lernte mein Bewusstsein, sich selbst wie ein schillerndes Spiegelkabinett in allen Facetten zu sezieren: die sich selbst beobachtende, hyperreflektierende Wahrnehmung aller möglichen Ichanteile, die sich als unterschiedliche Bedürfnisse der biografisch konditionierten Person herauskristallisierten. Mein Alltag gleicht heute einem gewissen "psychosynthetischen Automatismus", weil KEIN Zeuge im Zentrum irgendwas sehen will, sondern der Mensch insgesamt viele sich "widersprechende" Sinneseindrücke gleichzeitig empfindet, verarbeitet und auslebt und nicht als widersprüchlich empfindet sondern als wertfrei ergänzend. Bei einer Beerdigung lässt sich das gut nachvollziehen: es wird geweint UND gelacht. Es wird getrauert UND gedankt. Viel mehr "normale" Menschen, als manch ein erleuchteter Besserwisser zu wissen glaubt, sind dazu fähig, ihr wahres Ich aus der Begegnung abzuleiten anstatt aus einer künstlichen Trennung in einen metaphysischen Gott da draußen und diese Gefängnis-Innenwelt da drinnen im sogenannten Materiellen, die man als unsterbliche Seele erhofft. Diese von Grund auf falsche Hoffnung auf etwas Allmächtiges, Übermenschliches, Übernatürliches, Übersinnliches ist überflüssig, wenn die reale Strömung des Lebens empfunden wird. Dann braucht niemand mehr "im Körper anzukommen": das Universum erwacht einfach zu seinem eigenen Selbstbewusstsein in Form eines Menschen, der ALLES "WAHR"-NIMMT. Wahrer geht einfach nicht, ließe sich sinngemäß Nullyoga zitieren. Sowohl der Sinnsucher als auch die Sinnfrage sind reingeistige, illusionär-symbolistische Abstraktionen, nach deren Auflösung das echte dahinströmende Leben des echten "unter Strom stehenden" (arational aktivierten) Menschen übrig bleibt. Das nenne ich Boreoutyoga. Die Auflösung der Ich-Falle kann therapeutisch zwar dadurch eingeleitet werden, daß sich das Ich solange narzißtisch bespiegelt, bis es all seine Charakterpanzer vollständig durchleuchtet hat, aber die Auflösung selber geschieht nicht als simpler "therapeutischer Effekt", sondern erst wenn diese ichhafte Identität total gelangweilt von sich selbst kein Gesicht mehr im Spiegel erkennt sondern hindurchschaut durch das gläsern gewordene Dasein und das SCHAUEN an sich als bewusste Qualität entdeckt. Das Bewusstsein hat sich dann quasi selber entdeckt, ohne an einen bestimmten Inhalt gekoppelt zu sein, ohne also einen Namen (wie z.B. Materie, Körper, Geist, Gott) für DAS UNENDLICHE GANZE zu benötigen. Das führt zur Befreiung der Sprache von ihrem Objektzwang und hat damals zur Erfindung der Quantenlyrik geführt, die sogesehen konkretere Aussagen über die Stofflichkeit des dahinströmenden Stroms macht als alle Artikel, die ich jemals darüber schreiben könnte...
AUTOR: Tom de Toys, Quantenlyrik-Erfinder (www.quantenlyrik.de) und Veranstalter von Offlyrikfestivals (www.lyrikfestival.de)
QUELLE: Auftragsarbeit für die LDL - Erstveröffentlichung hier!
Die Rechtschreibung und die Hervorhebungen einzelner Passagen sind vom Autor so gewollt.