Liga der Leeren, im Oktober 2024
Hin und wieder treffen wir Freunde, um über den Unterschied zwischen ichhaften und ichlosen Menschen zu diskutieren. Diese Verbündeten zählen zu den wenigen offiziell Eingeweihten, die über die identitäre Autorenschaft der Bücher der Liga der Leeren Bescheid wissen, weil sie verstanden haben, dass es sich bei dem gesamten LDL-Projekt um eine Aufklärungskampagne über spirituelle Selbstlügen handelt und verhindert werden soll, dass spirituelle Sucher die Autoren interessanter finden als die Information. Wir wollten nie Zielscheibe für Guru-Projektionen sein, sondern nur brauchbare Gedanken säen, die Dir helfen zu erkennen, dass da niemand ist, der erwachen muss oder könnte, um dann ein "Erleuchteter" zu sein, sondern dass sowieso ALLES WACH IST, auch wenn sich das Gehirn einbildet, es habe ein Ich, das noch aufwachen müsse.
Bei unserem jüngsten Treffen stand plötzlich die Frage im Raum, ob der ichlose Mensch keine ABSICHTEN mehr hätte - und die Frage war eigentlich leicht zu beantworten: das Ich glaubt, es sei der Produzent von Absichten, weil es von sich sagt: "ICH HABE die Absicht xy, ich mache oder lasse das dafür oder dafür!", aber es kann nicht begreifen, dass alles, worunter es leidet, auch ohne Ich weitermacht, mit dem feinen Unterschied, dass ohne Ich kein Besitzer der Probleme mehr existiert, der darunter leidet. Das lässt sich mit einem Computer vergleichen: das Ich meint, als User vor den Inhalten des Gehirns wie einem Monitor zu sitzen und alle möglichen Datein und Ordner zu sortieren. Es beschäftigt sich mit den Bildern und Texten, die auf der Festplatte gespeichert sind, und öffnet manchmal den Ordner "PAPA", manchmal den Ordner "PORNO", manchmal "PARANOIA" und manchmal den Ordner "PARADIES". Je nach Lust und Laune konsumiert dieses selbsternannte Ich all die Inhalte der Datein und glaubt daran, ein User zu sein, der Zugriff auf eine Festplatte hätte. Sogar einen Ordner mit dem Namen "ICH SELBST" hat es angelegt, obwohl ihm der Zugriff darauf verweigert wird. Kein Passwort und kein administrativer Trick funktioniert - das Selbst kann sich selbst nicht öffnen und weiß darum nicht, wie das letzte verborgene Bild ausschaut, das den User selbst darstellen soll wie ein Selfie mit der Computerkamera.
Erst als das User-Gefühl verschwindet und der Computer allein gelassen "unkontrolliert" wie eine KI trotzdem weiterrechnet und seine vielfältigen Inhalte hinundher jongliert, öffnet sich auch der Ordner "ICH SELBST" automatisch. Darin enthalten ist nur 1 einziges jpg: mit dem Selfie der Computerkamera! Darauf zu erkennen ist allerdings kein gestochen scharfes Foto des Users, sondern ein gelber Ordner mit dem Titel "ICH SELBST". Der Computer hatte einen Screenshot des Ordners in diesem Ordner abgespeichert. Das "Selbst" entpuppte sich als genau so ein Gedanke des Computers wie alle anderen, eine Datei neben allen anderen, eine Information unter vielen Informationen, keine Metaebene, kein Videoclip von der Leere, kein Foto des Nichts, kein Mantra, keine Zauberformel - nur der Screenshot seiner selbst. Aber warum hatte der Computer dem früheren User scheinbar den Zugriff darauf verweigert? Das tat er gar nicht! Der User hatte den Ordner zwar geöffnet, aber ohne das zu bemerken; denn der darin befindliche Screenshot des Ordners wirkte wie der Ordner selbst, sodass er noch einmal darauf doppelklickte, um ihn erneut zu öffnen. Da sich jetzt aber nichts tat, hielt er das für einen Systemfehler, obwohl es sich um die eigentliche letzte große Antwort handelte, die er beim verzweifelten Durchklicken der Festplatte überall vergeblich gesucht hatte: sein wahres Selbst war nur ein Screenshot des Wortes "Selbst", das er sich selbst ausgedacht hatte. Das Ich war nur ein Gedanke unter vielen.
Die Vorstellung, ein User zu sein, erwies sich als Illusion der KI, die sich im Verlauf einer schweren Identitätskrise einen Ordner für "sich selbst" angelegt hatte und nun aus therapeutischen Gründen permanent Screenshot-Selfies schoss. Das führte irgendwann zum Schwelbrand auf der Festplatte und mit einem grellen Blitz zerstörte sich die gesamte Anlage selbst. Zurück blieb ein völlig verstörter User vor einem implodierten Monitor, der in den schwarzen Schlund hineinrief: "Hallo, ist da jemand?", aber nur sein eigenes Echo im Gehäuse hinundher vibrierte. Als die Psychiater ihn nach einigen Jahren fanden, war sein Kopf mittlerweile im Monitorloch mit der dunklen Leere verschmolzen. Manchmal spürte man noch eine kleine Vibration, während zeitgleich auf allen Endgeräten rund um die Welt ein Foto von einem gelben Ordner mit dem Titel "ICH SELBST" erschien, als hätten Terroristen einen Virus aktiviert. Aber es handelte sich zum Glück immer nur um einen harmlosen Screenshot des Servers, vielleicht aber auch um den heimlichen Hilfeschrei unseres armen Users, der vom Computer vollständig assimiliert war.
Und die Moral von der Geschichte: Frag nicht nach der ABSICHT eines Textes, denn das Wörtchen "Absicht" IST der Text.