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Über die Macht des Glaubens

Die Glaubensfragen von einst sind zu Fragen von Geist und Gehirn geworden


Wissenschaft und Glaube, die alten Kontrahenten, sie kämpfen noch immer miteinander. Aber allmählich gehen ihnen die Argumente aus, denn die Erforschung von Geist und Gehirn schreitet voran und wendet sich immer mehr auch dem Charakter und den Bedingungen all der schönen oder auch schrecklichen Illusionen zu: dem Glauben. Und sogar der Tiefendimension des Glaubens, dem Vertrauen, ohne das unser soziales und individuelles Leben kaum zu ertragen wäre.


»Was sucht ihr, mächtig und gelind, / Ihr Himmelstöne, mich am Staube? / Klingt dort umher, wo weiche Menschen sind. / Die Botschaft hör’ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube« ließ Dichterfürst Goethe seinen Faust sagen, im »Faust I«, dem meistzitierten Werk der deutschen Literatur. Sie sind mächtig, oft sind sie auch gelind, diese Himmelstöne, die da vom Glauben säuseln, von Vertrauen, Geborgenheit und seligem Aufgehobensein, doch ich gehöre offenbar nicht zu den weichen Menschen, die das auskosten dürfen, denn mir fehlt der Glaube. Einerseits stimmt das. Andererseits koste ich durchaus seliges Aufgehobensein, empfinde mich als geborgen im Universum, vertraue und bin auch ein weicher Mensch. Ich rechne mich sogar zu den »Hochreligiösen« – die Bertelsmann-Stiftung hat in den deutschsprachigen Ländern 18% der Bevölkerung als »hochreligiös« ausgemacht (in den USA sind es 89%, in Russland nur 7%). Obwohl ich doch eigentlich Atheist bin. Wenn mit Gott allerdings etwas Transpersonales gemeint ist, oder sowas wie das, was Sufi-Dichter als »den Geliebten« besingen, dann gehöre ich mit dazu, zu den Gläubigen. Sind ganz schön tückisch, diese Fragen nach dem Glauben – »Gretchenfragen« (»Wie hältst du's mit der Religion«) sind es jedenfalls nicht, sondern erheblich schwierigere. Sie haben damit zu tun, was wir unter den jeweiligen Begriffen verstehen, was wir von der Innen- und Außenwelt wahrnehmen oder dafür halten. Auch unser Umgang mit dem so gerne verteufelten Zweifel (siehe Goethes Mephisto) hat damit zu tun und noch einiges andere mehr.


Belief und Faith


Ich fang mal mit etwas ganz Einfachem an, mit der Unterscheidung zwischen belief und faith. Auf Deutsch heißt beides schlicht Glaube oder Glauben. Dabei ist belief etwas, dem man sich verschreibt, wenn man etwas nicht weiß: Wenn ich nicht mehr weiß, ob Helium zu den Edelgasen gehört oder brennbar ist, dann ersetze ich das durch eine Vermutung: Ich glaube, dass Helium dazu gehört und folglich nicht brennt. Dazu braucht es eventuell Vertrauen. Zum Beispiel dann, wenn ich mich in einen Heliumballon setzen will – Wasserstoff ist entzündbar, Helium nicht, oder war es umgekehrt? Aber das ist nichts Religiöses, keine der Goetheschen Himmeltöne erklingen hier, sondern eine Frage des Wissens. 

Faith allerdings ist nicht bloß ein Wissenslückenfüller. Faith ist eher sowas wie Zuversicht: Ich weiß nicht genau genug, was passieren wird (meistens ist das ja so), beschäftige mich aber nicht weiter mit den Sorgen über mögliche Katstrophen, Fehleinschätzungen oder Folgen von Fehleinschätzungen, weil mich das nur mutlos machen, irritieren und mir die Lust am Vorangehen rauben würde. Auch im Glauben an jemanden steckt diese Zuversicht: Ich glaube an dich, dass du es schaffst, sagt man einem Kind oder einem Freund vor der Prüfung und beschenkt diesen Menschen damit mit etwas, das den guten Ausgang oft erst ermöglicht.


Das Selbstreferenzielle


Hierzu gehört auch die sich selbst erfüllende Prophezeiung. Mich für mutig zu halten stärkt meinen Mut, mich für schüchtern zu halten meine Schüchternheit. Erfolg ist die beste Voraussetzung für Erfolg, Scheitern für Scheitern. Es sind dies Rückkopplungsprozesse, bei denen sich Subjekt- und Objektbereich überschneiden oder der Sender einer Botschaft auch ihr Empfänger ist – das mysteriöse Selbstreferenzielle. Also genau der Bereich, den die Wissenschaft meidet, weil dort Widersprüche auftreten: die Paradoxien oder logischen Antinomien (»Ein Kreter sagt, dass alle Kreter lügen«). Dieser Bereich ist aber der philosophisch eigentlich Interessante, denn es ist der Spielplatz für positives wie negatives Denken, für Ideologien aller Art, das Einfallstor für Religionen, Gehirnwäsche und mentales Training. 


Begriffe ...


Noch eine weitere begriffliche Unterscheidung möchte ich hier machen, die zwischen Glauben, Unglauben und Aberglauben. Diese drei Begriffe wurden historisch und bis heute überwiegend zur Abgrenzung zwischen Freund und Feind verwendet. Die meines Glaubens waren meine Freunde, die Andersgläubigen, Ungläubigen oder Abergläubigen meine Feinde. 

Wobei das lateinische Wort credere (dt. glauben), das auch die Wurzel von Kredit ist, ursprünglich eine Zusammensetzung von cor dare (Herz geben) ist. Es bedeutet also usprünglich: sein Vertrauen in etwas setzen. Credere ist insofern näher am englischen Wort faith (dem altindischen shraddha und dem griechischen pixit) als am belief, dem Gegensatz von Wissen. Ein solches Vertrauen schenken heißt auch: einen Standpunkt einnehmen inmitten einer unendlichen Vielzahl von Möglichkeiten und ist ein liebevoller, entschiedener Akt, der keineswegs Verdrängung oder Ignoranz voraussetzt. Ach, wie viele Streits, Glaubenskonflikte und andere, könnten wir uns doch ersparen, wenn wir mit unseren Begriffen ein bisschen genauer wären! 


Gehirnforschung und Psychologie


Wissenschaft und Glauben (im Sinne von belief) sind sich nicht grün – mindestens seit Galileo und Giordano Bruno und all den anderen Ketzern, Freidenkern und Skeptikern ist das so. Aber es gibt Brücken. Einige davon baut die moderne Gehirnforschung, indem sie untersucht, wie der Glaube und das Glauben in unserem Gehirn wirkt, wie der Glaube beeinflusst wird und was für Auswirkungen er hat. Weitere Brücken baut neuerdings auch die wissenschaftliche Psychologie, die sich seit einigen Jahren verstärkt mit Glaubensfragen beschäftigt, wie etwa der, ob Gesundbeten bei der Genesung hilft, Gläubige länger leben als Ungläubige, und ob sie gesünder und glücklicher sind. Da es aber so schwer ist, in einem Psychotest zu erfassen, ob jemand gläubig ist oder nicht – die Fähigkeit, in einem Fragebogen »Ich glaube an Gott« anzukreuzen, sagt ja noch nicht viel über die Religiosität eines Menschen – wenden sich nun einige Forscher dem Vergleich zwischen Optimisten und Pessimisten zu und kommen dabei zu erstaunlichen Ergebnissen.


Irrende Positivdenker


Einige dieser Ergebnisse hat das Time-Magazine in einer Ausgabe zusammengefasst, unter der Titelstory »Die Wissenschaft des Optimismus«, innen dann etwas genauer überschrieben mit The Optimism Bias (in etwa: das Vorurteil oder die verzerrte Wahrnehmung der Optimisten). Dort wird zitiert – kein Witz, sondern das Ergebnis einer ernsthaften Untersuchung – dass 93 % der Amerikaner sich für überdurchschnittlich gute Autofahrer halten. Und weiter: Von den befragten Heiratswilligen rechnete nicht einmal ein Prozent mit der Möglichkeit einer Scheidung – die tatsächlichen Chancen einer Scheidung sind jedoch etwa 50:50. Die Forscher fragten auch, wer das Alter von 100 Jahren zu erreichen glaube: 10 % antworteten mit Ja. Tatsächlich erreichen aber nur 0.02 % dieses Alter. Weitere Irrtümer betreffen die Wahrscheinlichkeit den Job zu verlieren, eine Krebsdiagnose zu erhalten, dass die eigenen Kinder sich als besonders begabt erweisen oder man selbst besser ist als Kollegen oder Gleichaltrige. 


Unrealistischer Optimismus


Diese Neigung zum unrealistischen Optimismus und zur falschen Selbsteinschätzung zeigte sich den Forschern quer durch alle Rassen, Regionen und sozialen Hintergründe. Wenn Kinder Erwachsensein spielen, sind sie übertriebene Optimisten, aber bei den Erwachsenen ist das kaum anders, und sogar bei den über 60-jährigen – von wegen Altersweisheit oder Altersrealismus – das zeigte eine Studio von 2005. Wenn die politischen Nachrichten von Naturkatastrophen, Kriegen und Währungskrisen berichten, mag das ein Kollektiv pessimistischer stimmen, die privaten Prognosen aber bleiben dabei so rosig unrealistisch wie zuvor. So fand eine Studie im Jahr 2007, dass 70% meinten, die Familien hätten insgesamt schlechtere Zukunftsaussichten, für die eigene Familie aber glaubten 76%, dass das nicht zuträfe. 

Offensichtlich führt dieser Optimismus zu krassen Fehlentscheidungen im finanziellen und gesundheitlichen Bereich und vielen anderen, wenn man etwa sein Geld falsch investiert, einen überfälligen Gesundheitscheck meidet, weiterhin raucht, seine Ernährung nicht umstellt oder an einem Job festhält oder in einer Beziehung, die einen auf Dauer unglücklich machen oder gar ruinieren.


Die Hoffnung triumphiert


Andererseits hat der Optimismus auch viele Vorteile. Ohne ihn würden wir nie zu neuen Ufern aufbrechen, könnten schwierige Zeiten und Rückschläge nicht ertragen, wir würden aufhören uns fortzubilden und immer wieder Neues zu lernen. Und auch wenn Optimisten sich nicht seltener scheiden lassen als Pessimisten, gehen sie doch häufiger eine neue Ehe ein (vermutlich sind diese Ergebnisse aus Amerika auch auf Europa übertragbar, und auch auf das Beziehungsleben auch der seriell monogamen Unverheirateten), ein Akt, den Samuel Johnson den Triumph der Hoffnung über die Erfahrung nannte. 

Unser Verstand neigt dazu, uns mit Zukunftsillusionen zu füttern, die eher früher als später enttäuscht werden. Dennoch hat der Optimismus viele Vorteile: Er mindert unsere Sorgen und den Stress und wirkt sich positiv auf die körperliche Gesundheit aus. Auf die geistige sowieso: Würden wir unsere Zukunft realistisch sehen, wären wir ständig in einer leichten Depression, sagen die Forscher. Schwer Depressive sind unrealisch, das schon, die leicht Depressiven aber haben ein deutlich realistischeres Weltbild als die Optimisten – die Melancholie lässt grüßen. 


Gefälschte Erinnerungen


Nicht nur über die Zukunft, auch über die Vergangenheit haben wir unrealistische Vorstellungen. Das Gedächtnis ist überhaupt so eine Sache. Es speichert nicht einfach das ab, was geschehen ist, sondern hat viele andere Aufgaben zu erfüllen: unsere Laune hoch zu halten und unser Selbstwertgefühl und uns vor Schuldgefühlen und allzu großer Reue zu bewahren. Unser Gedächtnis ist sehr weitgehend ein loyaler Diener unseres Egos: Erlebnisse, die unser Selbstbild zu sehr erschüttern würden, verdrängen wir, Schmeicheleien hingegen, die irgendwem uns gegenüber einmal nützlich waren, haben wir als authentisches Feedback ehrlicher Freunde in Erinnerung. Meist genügt schon die selektive Wahrnehmung, um unser gewohntes, uns zugewiesenes oder von uns gewähltes und oft mit Mühen erworbenes Selbstbild aufrechtzuerhalten; wo nötig helfen dann kleine Fälschungen nach – die Möglichkeiten von Bildbearbeitungsprogrammen wie Photoshop sind bescheiden, verglichen mit dem, was unser Gedächtnis in Bezug auf das Selbstbild zu leisten imstande ist.


Unser Selbstbild


Die Gestaltbarkeit unseres Selbstbildes als Lebenslüge zu denunzieren ist eines. Man kann darin jedoch auch – hier setzt sich offenbar gerade mein Optimismus durch – eine Chance sehen: Wir können uns als die gestalten, die wir sein wollen. Das Ich ist eine Illusion, eine Täuschung. Ja, es sei die Wurzel aller Täuschungen, haben die Weisen Asiens über die Jahrtausende gesagt, und die moderne Psychologie und Gehirnforschung ist gerade dabei, das zu bestätigen. Na und? 

Wenn wir wissen, dass das Ego eine Täuschung ist – zudem eine sehr nützliche – müssten wir doch imstande sein, einigermaßen locker damit umzugehen. Der Buddha sagt es, Ramana Maharshi und all die anderen Weisen sagen es: Du bist nicht der, für den du dich hältst! Du bist nichts, die Leere, das Ganze! Gut, wir haben es gehört. Allmählich ist es auch zu uns durchgedrungen. Und was jetzt? 

Wir sollten ob dieser Leere und großen Ent-Täuschung nicht weinerlich sein, uns kasteien oder in eine Höhle in den Bergen zurückziehen, meine ich, sondern im Gegenteil: An diese tabula rasa, die unser Selbstbild im Wesentlichen offenbar ist, sollten wir nun die Designer ranlassen. Designer einer guten Ethik, eines friedlichen Zusammenlebens, einer nachhaltigen, naturfreundlichen Kultur. Nicht, dass ich aus einem 1,60m Großen einen 1,80m Großen machen möchte, in der Hinsicht braucht mein Selbstbild keinen Designer, aber ob ich göttlich, teuflisch, menschlich, tierisch, gut oder böse bin, das sind Eigenschaften, die sich in diese weiße Fläche hineinschreiben lassen.


Designer-Ego


Als ich damals für den »Kongress für Integrale Politik«, der in jenem Jahr mit der Holon-Sommertagung zusammengelegt war, um einen Vortrag gebeten wurde, habe ich mich gefragt, was dort wohl am besten passt. Habe mich dann für »Ego und Nation« entschieden, das ein Kernthema schon meiner Antwort auf Helmuts Schmidt Rede zur Zukunft der Wissenschaft war, weil diese leere Fläche inmitten unseres Selbstbildes doch einlädt, dort ein Designer-Ego hineinzusetzen. Das kratzt jetzt bestimmt heftig am Selbstbild der Authentizitäts-Fans. Aber ich meine das so: Authentizität ist auch nur eine Mode. Eine gute zwar, weil sie uns immer tiefer in uns selbst führt, aber auch das vermeintlich authentische Ich ist eine Fiktion. Die man doch besser einem klugen Designer überlässt, als mit der fixen Idee herumzulaufen, dass es (außer der Körpergröße und all dem anderen, was vergleichsweise fest ist) ein unverrückbar authentisches Ich gibt, das meinen Charakter ausmacht und das sich im Lauf des Lebens nicht ändert. Und das möglichst als wandernde Seele dann später in einem anderen Körper wiedergeboren wird, um dieses Spirikitsch-Märchen hier noch hübsch abzurunden.


Biografie der Zukunft


Dann sollte ich zu dem Vortrag noch einen Workshop anbieten. Wie kann man das Ego (das ja auch unsere diversen Nationalismen prägt, mit weltpolitisch oft übelsten Konsequenzen) in einem Workshop »bearbeiten«? Ich habe mich dann für die Anleitung zum Entwurf einer »Biografie der Zukunft« entschieden. In den Workshops, die ich viele Jahre lang hier im Connectionhaus geleitet habe, war diese Zukunftsreise immer sehr beliebt. Wenn schon das Ich der Vergangenheit, geprägt durch unser nicht sehr vertrauenswürdiges Gedächtnis, eine Fiktion ist, dann gilt das umso mehr auch für das Ich der Zukunft, das wir ja erst noch werden können. Und dass wir das können, daran dürfen wir durchaus auch glauben. Utopien kann man nur realisieren, wenn man an sie glaubt. Ebenso auch an einen Entwurf von sich selbst: Wenn man sich für diese Möglichkeit nicht ein gewisses Maß an Kredit gibt (hier wieder das lat. credere, von cor dare, das Herz hineingeben), dann wird sie nie etwas.


Wer du sein wirst


Hier ist die Anleitung, der jeder mit zwei Freunden auch zuhause folgen kann. 

1. Wähle eine erwünschte Zukunft, die z.B. in fünf Jahren eingetroffen sein soll.

2. Teile deinen beiden Mitspielern mit, wie und wer du dort sein willst – sinnlich, anschaulich (was du dort siehst, hörst, fühlst usw.)

3. Beginne mit deiner Reise in der Gegenwart, indem du deinen Mitspielern sagst, was du heute und morgen tun wirst, im Hinblick auf die soeben beschriebene erwünschte Zukunft.

4. Nun setzt der Mitspieler rechts von dir diese Geschichte fort, indem er ebenfalls ein paar Sätze dazu sagt, was mit dir geschehen wird. 

5. Dasselbe tut anschließend der zweite Mitspieler, dann bist du wieder dran. Die Geschichte dreht sich im Uhrzeigersinn, und du kannst nur ungefähr ein Drittel davon selbst bestimmen, die anderen beiden Drittel bestimmen die anderen. (Also: ganz wie im richtigen Leben...).

6. Nach etwa einer halben Stunde solltest du in der erwünschten Zukunft angekommen sein. Deine beiden Mitspieler haben das abwechselnd gefördert und verhindert, je nach Laune, so dass es eine bewegte Reise geworden ist. Nun aber bist du dort, so die Vereinbarung, und bist dabei ein anderer geworden.

7. Dasselbe tun nun deine beiden Mitspieler, bis auch sie in der Zukunft angekommen sind.


Die Chancen erhöhen


Auch hier, bei dieser fantasievollen Übung, dürfen wir unserer Neigung zum Optimismus fröhnen – und das tut gut, nicht nur während dieser Übung, sondern auch, was die Chancen der Verwirklichung deiner Utopie anbelangt. Die Übung erweitert die Fantasie: Was ich mir nicht vorstellen kann (»Oh, das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen«), das kann in meinem Leben nicht eintreten. Also erstmal das Vorstellen üben. Das laute Lachen während der Erzählrunde und die glühenden Gesichter dabei und danach zeigen: Es tut gut, sich auf diese Fantasiereise zu begeben – und sie nicht nur allein zu unternehmen, wie bei den bekannten (auch schamanischen) Traumreisen. Die Erfahrung zeigt, dass solche Reisen die Chancen erhöhen, diese mögliche Zukunft oder eine ihr ähnliche zu verwirklichen. 

Zukunft und Vergangenheit, beides sind in gewisser Hinsicht geistige Konstrukte unserer Fantasie. Aber es gibt nur eine Vergangenheit (die wir vergessen, verfälschen, verdrängen oder auch beschönigen und ausschmücken können), aber viele mögliche Zukünfte. Wobei die Biogafien der Zukunft noch viel mehr Fantasie und schmückende Hingabe brauchen, als die eine Biografie der Vergangenheit – und sie lohnen es uns, denn sie können noch verwirklicht werden, die Vergangenheit hingegen ist schon geschehen.


Glauben schenken


Alles das sind Produkte des Glaubens. Ich glaube, eine bestimmte Vergangenheit gehabt zu haben, mit Erfolgen und Misserfolgen. Und ich glaube, eine bestimmte Zukunft haben zu können. Bei einer solchen Sprechweise ist der Glaube nicht der Gegner eines Wissens, so wie in dem klassischen Konflikt zwischen Galileo und der Kirche, der den Beginn der modernen Naturwissenschaft markiert. Der Legende nach soll Galileo am Ende seines Prozesses trotzig gesagt haben: »Und sie dreht sich doch!« – die Erde um die Sonne und nicht, wie die Kirchenleute »glaubten«, die Sonne um die Erde. Sondern hier bedeutet Glaube die Hingabe an eine Idee, deren Verwirklichung man fördert, indem man ihr Glauben schenkt. Die Energie folgt der Aufmerksamkeit, sagen die Huna-Lehren aus Hawaii und viele andere esoterische Lehren: Woran ich glaube, das heißt, worauf ich meine psychische Energie richte, meine Aufmerksamkeit, meine Liebe, meine Intention, das unterstütze ich und fördere so die Möglichkeit seiner Verwirklichung.

Für eine solche geistige Unterstützung braucht man eine feine Wahrnehmung der eigenen Gedanken und Gefühle. Zunächst mal muss ich erkennen, woran ich selbst glaube und was ich bezweifle. Das ist gar nicht so leicht. Den meisten Menschen ist nicht bewusst, woran sie glauben und was sie bezweifeln, jedenfalls nicht im Einzelnen. Wenn ich meiner Gedanken allerdings bis ins einzelne gewahr werde, dann kann ich sie auch – so wie beim luziden Träumen – steuern oder zumindest ihnen eine Richtung vorgeben, und so zum Beispiel negative Gedanken durch positive, glückbringendere ersetzen.


Lügst du oder glaubst du es selbst?


Heute werden wir gläubige und skeptische Erdenbürger nur noch selten vor eine Heilige Inquisition gezerrt, wenn wir nicht das glauben, was politisch oder religiös 'korrekt' ist. Eher schon wird man dann als psychisch krank diagnostiziert. In den toleranteren Schichten unserer Weltkultur hingegen untersucht man einfach das Gehirn und stellt fest, welche Gehirnregionen aktiv sind, wenn wir eine Geschichte erzählen, an die wir glauben, oder aber eine Lüge – für die Kriminalisten enttäuschend ist, dass man noch immer nicht am EEG oder sonst einem Gehirnbild zweifelsfrei erkennen kann, ob ein Mensch lügt. 

Was die Gehirnforscher aber herausgefunden haben, ist dass eine rACC genannte Stelle im Stirnlappen (lobus frontalis) verstärkt aktiv ist und für die emotionale Belohnung zuständig zu sein scheint, wenn wir unverbesserliche Optimisten uns eine positive Zukunft vorstellen. Und dass auch die Amygdala dabei hilft, den Optimismus zu fördern – und noch einiges andere mehr.


Geschichten


Für den Wald-und-Wiesen-Esoteriker sind diese wissenschaftlichen Ergebnisse aber zu vieldeutig interpretierbar und im Einzelnen zu komplex. Da erzählt man sich lieber die Geschichte von dem Mann, der sich versehentlich in einem Kühlcontainer eingeschlossen hatte – die Tür fiel hinter ihm zu, und er konnte sie nicht mehr öffnen. Am nächsten Morgen fand man nur noch seine Leiche. Er war erfroren. Dann stellte man fest, dass das Kühlaggregat gar nicht angeschaltet war. Er war an dem Glauben gestorben, dass er sich in einem so kühlen Raum befände, dass er erfrieren müsse. Atemluft war genug da.

Oder die Geschichte von der Hummel. Von der wird gesagt, dass sie viel zu schwer sei zum Fliegen – es sei aerodynamisch schlicht unmöglich, ein so schweres Insekt mit so kurzen Flügeln in die Luft zu befördern. Aber sie weiß das nicht, deshalb fliegt sie.


Was hilft? Vier Schritte


Glaube und Wissenschaft, diese alten Kontrahenten brauchen sich nicht mehr zu befehden, sie sollten es nicht tun, dürfen es nicht, der Erde und uns allen zuliebe. Wer dennoch weiterkämpft, ist ein Fanatiker von vorgestern. Zunächst einmal hilft es, diesen ganzen Unsinn mit den Heiligen Schriften in die Museen unserer Kulturgeschichte zu befördern. Weisheitsliteratur, okay, die gibt es. Wie schön. Das Hohelied, die Bergpredigt, so manche Sure im Koran, so mancher Teil der Veden, und nicht zu vergessen: das Tao Te King und die Sutren des Buddha. Wie schön, dass es das alles gibt. Aber hört doch bitte auf mit dem Unsinn, an eine dieser Schriften zu glauben!

Zweitens hilft es, den Begriff Glaube oder Glauben näher zu untersuchen, was damit eigenlich gemeint ist. Sowas wie das griechische pistis (Treue, Vertrauen)? Oder sowas wie das arabische iman, entsprechend dem hebräischen aman, das im Christentum zum »Amen« wurde und sowas wie »fest, unerschütterlich« bedeutet? Oder das altindische shraddha, das in allen altindischen Religionen eine Bedeutung hat? Im Buddhismus, der doch betont, nichts zu glauben, was man nicht selbst erfahren hat, ist Shraddha (Vertrauen, Loyalität) eine der wichtigsten Tugenden. Oder das lateinische credere (frz. croyer), das angelsächsische faith? Genug. Jedenfalls: Bitte erst den Begriff klären, ehe man einen »Ungläubigen« abmurkst.

Drittens hilft es, den eigenen Geist kennen zu lernen. Die Bewegungen der eigenen Gedanken und Gefühle zu verfolgen und dabei gewahr zu werden, was passiert, wenn ich einem Menschen, einem Projekt oder einer Zukunftsvision meinen Glauben schenke – oder ihn entziehe. Diese Vorgänge haben eine gewaltige Wirkung auf unsere Fähigkeit, etwas Erwünschtes Realität werden zu lassen, und natürlich auch auf unser Sozialleben, unsere Beziehungen, Beruf, Gesundheit, fast alles, was uns wichtig ist.


Optimisten müssen nicht dumm sein


Viertens hilft es, sich einzugestehen, wo man pessimistisch und wo optimistisch ist. Und dass diese Grundhaltung veränderlich ist – zumindest was die Haltung gegenüber einzelnen Objekten des Glaubens anbelangt, vielleicht auch als Ganzes. Und dass Optimismus mit Realismus vereinbar ist. Die sehr lesenswerte englischsprachige Zeitschrift »Ode« nennt sich im Untertitel »für intelligente Optimisten«. Ja, das gibt es. Mal für einen romantischen Abend die rosarote Brille aufzusetzen, das muss noch kein Zeichen von Dummheit sein. Und wenn dir mal das Wasser bis zum Hals steht, vergiss nicht, dass das grad ein ungünstiger Zeitpunkt ist, den Kopf hängen zu lassen. Auch Galgenhumor kann helfen. Nicht nur das Herz an der richtigen Stelle tragen, sondern auch die blinden Flecken dort anbringen, wo sie das alltagstaugliche Ego stützen.

Zum Glück steht einem nicht alle Tage das Wasser bis zum Hals. Es scheint auch mal die Sonne, man hat genug zu essen, Geld auf dem Konto, ist gesund und entspannt, wird beschenkt mit so vielem, was das Leben zu bieten hat, und Hiob ist nur einer von vielen Namen in der Bibel. Kaum zu glauben? Doch! Das Leben ist gut!



Autor: Sugata Wolf Schneider

Originalquelle: Magazin connection spirit 07-08/2011

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