Für alle, die diese Zeit miterlebt oder von ihren Eltern darüber erfahren haben, ist „Insektenglück“ ein MUSS; aber auch für die, die sich generell mit Meditation, neuem Denken und alternativem Leben auseinandersetzen.
Dr. Hans Christian Meiser, Juliaandthelovebirds.com, 22.3.2021
Nur gut, hat die Schweizerin über alledem ihren Witz nicht verloren und schildert die teils verstörenden Zustände mit viel Humor.
Martin Frischknecht, GlücksPost, 1.7.2021
Ganz klar kristallisiert sich dabei die Entwicklung einer Befreiungsbewegung hin zu einem autoritären System, das seine Mitglieder schamlos ausbeutet, heraus. Die Erzählung macht unmissverständlich deutlich, wie die Spaltung in "Wir" und "Die" funktioniert. Wie aus Freiheitsträumen eine Burgenmentalität entstehen kann. Und wie gnadenlos geschäftstüchtig jene sind, die der Erleuchtung (anscheinend) am nächsten gekommen sind.
Petra Lohrmann, gute-literatur-meine-empfehlung.de, 22.7.2021
Im Rössli durften wir uns bestellen, was wir wollten. Für die Erwachsenen orderte der Fremde dunklen, fast schwarzen Wein. Der Mann transpirierte stark, fuchtelte ständig herum und verbreitete insgesamt eine unruhige und eher disharmonische Stimmung. Mit etwas Aufklärung konnte man das sogar verstehen. Die Sache war nämlich die: Seine Tochter war abgehauen. Nach Indien!
(...) Was die Tochter dort wiederum trieb und vor allem, was daran so schlimm sein sollte, begriff ich erst nicht. Der Dicke wollte aber auch nicht so richtig herausrücken mit der Sprache; er druckste und stammelte herum, wand und bog sich wie ein Käfer im Mist, bei dem man ja auch nicht so genau weiß, ob es ihm gefällt oder nicht. Endlich zog er tief die Luft ein, sodass sich sein Bauch noch weiter aufblähte, und ließ sie dann mit einem schweren Seufzer wieder entweichen.
„Si isch in’ere Sekte!“, brach es endlich aus ihm heraus.
Auf einmal wurde es totenstill. Die Erwachsenen starrten betreten auf ihre Kuchenteller. Nur meine Schwester führte weiterhin stoisch einen Löffel nach dem anderen zum Mund. Hatte ich richtig gehört? In einer Insekte?! Ich hielt bestürzt den Atem an. Vor meinem inneren Auge erschien ein kleines Mädchen im rosa Kleidchen, einsam im Bauch einer indischen Mutationsform einer Riesenheuschrecke sitzend, ähnlich dem Jonas im Wal, nur ohne Bücher; Jonas hatte laut dem Bild in meiner Kinderbibel ja wenigstens genug zu lesen dabeigehabt, weshalb es am Ende eigentlich doch noch ganz gemütlich wurde. Doch gab es in Indien heutzutage wirklich noch solche Ungeheuer? Wer weiß, möglich war’s. In Schottland gab es ja auch das Monster von Loch Ness. Und ich konnte mir nur zu gut vorstellen, wie sich eine solche Insekte die Tentakel danach leckte, zwischen all den Indern auch mal eine Schweizer Tochter zu erwischen!
Mir war klar, nun war wichtig, dass ich mich auf den weiteren Verlauf des Gesprächs konzentrierte. Nach einer kurzen Schweigeminute fuhr der Mann mit seinem Bericht fort. Doch er redete und redete, ohne viel zu sagen. Die Tochter sei in einem ‚Ashram‘, erklärte er, und müsse gerettet werden. Er hatte ihr Briefe geschrieben, die sie aber entweder nicht erhalten hatte oder aber nicht beantworten wollte. Einmal hatten sie telefoniert, mit einem unglaublichen Aufwand, da die Tochter dazu extra auf ein Postamt gehen musste, dessen geheimnisvolle Öffnungszeiten zudem, ganz anders als in der Schweiz, nach einem unsichtbaren Muster variierten und nur eingeweihten Personen bekannt waren. Er, der Vater, hatte erst gebeten, dann geschimpft und am Schluss befohlen, die Tochter müsse nach Hause kommen. Doch diese habe nur gelacht.
„Wie alt isch d’Dochter?“, fragte ich meine Mutter mit vorsichtigem Ärmelzupfen. „Schsch!“, sagte sie.
Der Mann holte erneut tief Luft und wischte sich mit einem großen karierten Schnupftuch über die feuchte Stirn. Die Sache sei die: Er brauche jemanden, der in den Ashram fahre und seine Tochter nach Hause hole. Und, jetzt kommt’s: Für diese ehrenwerte Aufgabe habe er ausgerechnet meinen Vater auserkoren.
Da wir alle eine große Familie waren, war klar, dass Kinder nicht in unmittelbarer Nähe der leiblichen Eltern schliefen, sondern unter sich wohnten, so wie ja auch in Kleinfamilien die Geschwister miteinander ein Zimmer teilen und nicht mit den Eltern. Alle Kommunen-Mitglieder waren gleichermaßen als unsere Eltern zu sehen. Wir durften, nein sollten in kompletter Freiheit und Unabhängigkeit von leiblichen familiären Bindungen aufwachsen. So bewohnten wir Kinder zwei 4-Zimmer-Wohnungen im Erdgeschoss nach dem gleichen Prinzip wie die Erwachsenen: Jeder hatte ein ‚Space‘ und vielleicht noch einen persönlichen Teddy, der Rest war Gemeinschaftseigentum. Oder hätte es zumindest sein sollen, denn wir Kinder vertraten unsere jeweiligen Besitzansprüche wesentlich resoluter, als die Erwachsenen das wagten, sodass es regelmäßig Streitereien gab:
„Das ist meins!“
„Hier gibt’s kein deins!“
„Gib jetzt her, du Arsch!“
Insgesamt waren wir etwa 15 Kinder im Alter von 4 bis 10 Jahren. Zahl und Zusammensetzung unserer kleinen Gruppe schwankten stark, trotzdem gab es einen festen Kern an Kindern, die von Anfang bis Ende dabei waren.
Zu meiner Freude traf ich in Höngg Arjuna wieder, das Mädchen mit den roten Haaren von meiner Sannyas-Einweihung. Wir waren beide im gleichen Alter und damit quasi als Freundinnen vorherbestimmt. Grundsätzlich verlief das Zusammenleben in der ‚Kids Flat‘ harmonisch. Da wir keinerlei Kontakt zur Außenwelt hatten, blieb uns auch gar nichts anderes übrig. Wir saßen alle im selben Boot. Wir hatten nur einander. Mehr oder weniger betreut wurden wir jeweils von einer sogenannten ‚Kids Mama‘ oder einem ‚Kids Papa‘. Das war irgendwer aus der Kommune, der gerade ‚Energy‘ dafür hatte, sprich, der Lust oder Berufung zu diesem Job verspürte. Da wir, irgendwo zwischen grenzenloser Freiheit und Vernachlässigung, alles andere als ein betreuerfreundlicher Haufen waren, musste diese Stelle permanent neu besetzt werden. Manche der Kids Mamas oder Papas hatten wir lieb, andere weniger. Oft gingen leider die falschen, ohne dass wir verstanden hätten, warum eigentlich. Vermutlich hatte das auch gar nicht immer mit uns zu tun, sondern vielmehr damit, dass die jeweiligen Mas oder Swamis einfach fühlten, dass ihre Energy sie nun in eine andere Richtung trieb.
Aus dem zunehmenden Treiben der Trommeln schloss ich, dass es nun bald soweit sein musste. Bestimmt war Bhagwan schon am Hintereingang vorgefahren. Sehen konnte ich zwischen all den zappelnden Beinen und flatternden Gewändern natürlich nichts, doch wusste ich aus Erzählungen, dass das immer so geschah. Die Trommeln hämmerten, die Gitarren kreischten. Und dann ging ein plötzliches „Aaahhhh!“ durch die Menge. Arme flogen in die Luft, der eine oder andere hüpfte wie von allen guten Geistern verlassen. Meine Schwester und ich wussten: Nun musste er hereingekommen sein. Also sprangen auch wir auf der Stelle auf und ab, konnten jedoch kaum einen Blick erhaschen. Einzig ein paar in die Luft gestreckte Hände erspähte ich, die, in nicht-roten-Ärmeln steckend, zu Bhagwan gehören mussten. Eine Weile schien er, während die Musik immer brausender wurde, von dem Podest aus mit seinen Sannyasins mitzutanzen.
Dann, mit einem einzigen Paukenschlag, war Schluss. Totenstille. Nach einigen regungslosen Momenten ging ein leises Knistern durch die Reihen, als Bhagwan auf seinem Sessel Platz nahm. Nun ließen sich auch die Sannyasins nieder, geschmeidig und synchron wie ein einziges großes Wesen. Eng an eng und meistens mit verschränkten Beinen bildeten sie eine geschlossene Fläche, wie ein bodennahes Flechtengewächs. Auf einmal war der Blick frei. Fantastisch! Meine Schwester und ich blieben regungslos stehen, denn jetzt konnte man endlich mal etwas sehen.
Und dort saß er. Ich konnte kaum glauben, dass dort vorne, nur etwa 100 Meter entfernt, nun tatsächlich Bhagwan hockte, mein Meister. Einfach so, als würde er ständig irgendwo unter uns weilen. Es war schon ein besonderer Moment, ihm, dessen Gesicht mir aus Hunderten allseits präsenter Bilder vertraut war wie kein zweites, auf einmal face en face gegenüber zu stehen. Ich sah mich um. Die Tausende Sannyasins saßen still und wie eingefroren da. Sie meditierten. Sie hatten die Augen geschlossen und machten keinen Mucks, leiser noch als Schlafende. Manche atmeten tief, anderen liefen Tränen über die Wangen. Ich kannte das schon, das passierte manchmal beim Meditieren und bedeutete nichts Schlimmes.
Und jetzt? Ich versuchte, so lange wie möglich bei der Sache zu bleiben. Man sagte ja, dass Bhagwans Gegenwart auf jeden Fall ihre Wirkung tat, ohne dass man viel dazu tun müsse, ähnlich wie Baden im Thermalbad. Man musste nicht einmal aktiv meditieren, was gut war, da ich immer noch nicht genau wusste, wie das ging. Also konzentrierte ich mich und versuchte, Bhagwans Präsenz in mich aufzusaugen; schaden konnte das ja nicht. Doch schon nach kurzer Zeit langweilte ich mich schlichtweg zu Tode. Ich seufzte. „Isch das langwiilig!“, sagte ich zu meiner Schwester, und sie nickte.
Ich musste aufs Klo. Sehnsüchtig dachte ich an die Klohäuschen draußen, die rund um Mandir herum aufgestellt waren. Jetzt wäre bestimmt etwas frei. Meine gesamte Zeit während des Festivals war ich ständig mit dem Dilemma meines Flüssigkeitshaushalts beschäftigt – jedes Stillen des aufgrund der großen Hitze allgegenwärtigen Durstes hatte unweigerlich ein qualvolles Anstehen vor einem der Klohäuschen zur Folge. Vor Beginn des Darshans hatten sich auch hier die üblichen, grotesk langen Schlangen gebildet, doch jetzt würde ich mir vermutlich sogar ein Klo aussuchen können. Neben den vielen Chemie-Klos gab es auf der Ranch noch aus Zeiten der Big Muddy Ranch vereinzelte Plumpsklos, die ich den Pixie-Klos eindeutig vorzog. In diesen Holzverschlägen stank es zwar bestialisch, dafür hatten sie ein herzförmiges Loch in der Tür, durch das man während der Sitzung in die Landschaft träumen konnte.
Trotz der Verlockung traute ich mich nicht hinaus. Um mich abzulenken, ließ ich meinen Blick über das Menschenmeer schweifen. Irgendwo in der Mitte entdeckte ich tatsächlich meinen Vater und seine Freundin. Sie saßen genauso reglos und heilig da wie alle anderen.