DAS BUCH AN SICH

Vorwort der neuromagnetischen Antibiografie

(Autorisierter Nachdruck des eBooks im BoD Verlag mit ISBN 9783755739913, erschienen am 16. November 2021)

 

Wie soll man denn einen Roman beginnen, wenn niemand da ist, um ihn überhaupt schreiben zu wollen? Es gibt eine Erinnerung an eine Verkettung von unzähligen seltsamen Begebenheiten, die ein noch lebender Mensch einmal tatsächlich hatte. Aber die eigentliche Person, die normalerweise Erinnerungen hat, ist seit geraumer Zeit einfach vom Spielfeld verschwunden. Jetzt sind da nur noch bekloppte Geschichten, die irgendwie miteinander zusammenhängen, aber von einer identitätsfreien Metaebene aus betrachtet nicht weniger langweilig und unbedeutend erscheinen als alles, was sonst so auf diesem Planeten passiert. Darum besteht die berechtigte Frage, ob man aus diesen biografisch-historischen Zufälligkeiten einen Roman fabrizieren kann oder vielleicht doch eher nur einige durchgeknallte esoterische Anekdoten willkürlich lose hintereinander weg erzählen sollte. Niemand ist da, um das jetzt zu entscheiden, aber solange das Schreiben von selbst funktioniert, könnte ein Lektor im Nachhinein eine gewisse Idee in dieser Sache erkennen, womöglich sogar eine Logik oder zumindest ein Thema entdecken und die Ereignisse so spannend verpacken, daß es sich erst auf dem Ladentisch richtig anfühlt, daß Du dieses Werk in die Hände nimmst und mir beim Schreiben zuschaust.


Du, der wesentlich echter ist als der Zeigefinger, der über die Handytastatur springt, ohne ein Ziel vor Augen zu haben. Die Augen haben nur den Finger vor Augen, der Finger nur die Tastatur und die Tastatur hat keine Augen. Künstliche Intelligenz wurde noch nicht konstruiert und das hat einen völlig anderen Grund als die Wissenschafter vermuten. Sie liegen im Ansatz ihrer Theorien bereits falsch, denn sie gehen davon aus, daß der Mensch eine sich selbst als ein Ich bewusste Identität hätte. Das ist der Fehler. Ein Jahrtausende alter Fehler: das Ich. Diese unglaubliche Sprachschöpfung dient einzig und allein einem kommunikativen Zweck: es ist für den Zuhörer viel leichter, eine Perspektive auf die Welt nachzuvollziehen, wenn die Position der beschreibenden Person als ein soziopsychologischer Ausgangspunkt markiert werden kann. Dazu dient das Wort "ich": Hier ist ein Ich, das behauptet, das sich dies oder jenes so oder so anfühle. Das Gegenüber kann dann sofort als ein zweites Ich auftreten, das von sich selber behauptet, es hätte eine Meinung von einem anderen Ich empfangen. In Wahrheit haben beide Menschen nur Schallwellen gespürt und die Gehirne interpretierten das Gehörte, Gedachte, Geschriebene als eine Aussage von jemandem über irgendwas. Alles erweist sich bei näherem Hinsehen als Lug und Trug. Niemand war da, der etwas behauptete, und niemand empfing eine Meinung. Es reihten sich lediglich Sätze aneinander, die Bilder erzeugten. Und aus den Bildern wurden Geschichten. Danach glaubt ein Verlag, einen Autor zu publizieren, und dieser Verlag generiert Leser, die glauben, Leser einer Autorengeschichte zu sein. Nein. Es findet weder eine Lesung noch eine Schreibung statt. Diese Geisterhand tippt einzelne Buchstaben in das digitale Display, ohne einen Autor zu kennen, geschweige denn einen Sinn oder Nutzen in dem Geschriebenen.


Niemand ist da, um nach einem Nutzen zu fragen. Alles passiert einfach grundlos. Das Schreibfeld erreicht irgendwann die maximale Buchstabenmenge, wird abgespeichert und dann gewartet. Gewartet auf einen neuen Impuls, der manchmal schon Jahre benötigte, und zu keinem brauchbaren Ergebnis führte. So schreibt man kein Buch. Und so endet es nie. Es ist ein ewiger Anfang, ein endloses Versuchen, ein blindwütiges Loslassen und Freisetzen von nicht literarisch verwendbaren Fragmenten aus einem Leben, das niemanden interessiert, das dem Zivilisationsprozess nicht im Geringsten behilflich war, sondern genauso wie der gesamte Rest dieser einmaligen Kreatur unter der Erde landet und zur Fruchtbarkeit des Bodens beiträgt, der das Wunder von blühenden Blumen vollbringt. Lach nicht, es liegt auf der Hand: Blumen blühen. Es hätte überhaupt nicht erwähnt werden müssen. Der Finger tippt, das Auge schaut zu, die Tastatur erzeugt elektronische Impulse und die Blumen blühen. Sie blühen, welken und zerfallen. Wie der Mensch. Alles zerfällt, was einmal geredet hat. Alles bleibt stumm, was gerade eben noch schreien konnte. Wenn es ein Ich gäbe, das schreien könnte, hätte die Aussage "ICH KÖNNTE DEN GANZEN TAG LANG NUR SCHREIEN!" eine gewisse Dramatik, die zu berechtigter Neugier führen würde: WARUM könnte dieses Ich immerzu schreien und WAS hat es erlebt, daß es damit nicht mehr aufhören wollte. Aber es gibt kein Ich, daß sich befragen ließe. Und es gibt auch kein Ich, daß sich diese Frage stellen könnte. Es sind nur harmlose Gedankenabläufe, mit einem Zeigefinger in die Tastatur gehauen. Nicht in Stein gemeißelt. Das kommt noch. Wenn das Buch ein Erfolg wird und später als Klassiker in den Kanon der Weltliteratur aufgenommen wird. Dann darf der heilig gesprochene Schriftsteller als Statue in einen Park gestellt werden und steht da genauso erbarmungslos trostlos herum wie die bereitgestellte Schrift zwischen zwei Hochglanzkartons, die den Titel des Werkes andeuten: "DAS BUCH AN SICH". Da der Titel nicht lesbar ist, so gequetscht im Regal zwischen all den verstaubten Kollegen vergangener Epochen, könnte das Buch auch aus leeren Seiten bestehen, was dem enormen Anspruch gerecht würde, es sei DAS "An sich" Buch. Aber wie bereits hier auffällt, wäre das eine Lüge, denn es wurde bereits viel zu viel niedergeschrieben, was nun diese EIGENTLICH weißen Seiten füllt. Ja, verfluch mich! Keine Ahnung, WEN Du verfluchst, keine Ahnung, WER sich angesprochen fühlen sollte.

 

Der Autor ist nur eine hohle Figur, die benötigt wird, damit NICHTS aufgeschrieben werden kann. Denn es besteht der Verdacht, daß es Leser gibt, die noch immer meinen, da wäre ETWAS und das solle man einfangen. Zwischen zwei Buchdeckel pressen. Und trocknen. Nach einigen Wochen Geduld hätte man auf diese Weise ein Ich verewigt, ein getrocknetes Ich, das sich in einer Vitrine präsentieren und bestaunen lässt. Weil das schon immer so war und darum auch weiterhin so zelebriert werden müsse. Immerhin lässt sich daran sehr viel Geld verdienen. Ein Euro pro verkauftes NICHTS als Marge für den Buchstabenindietastaturhacker ergibt bei einem Bestseller eine satte Millionen, von der sich die Welt zwar nicht retten lässt, aber irgendwas Gutes bewerkstelligen, um das verfluchte Schreien zu unterbinden. Literatur als kanalisierter Schrei - das verkaufte Buch als Lutschtablette gegen das Kratzen im Hals. Der Stimmverlust dauert dann wieder einige Jahre, aber irgendwann bricht dieses Monster wieder hervor, quillt aus den untersten Ritzen der Seele an die verfaulte Oberfläche und explodiert zu einem neuen Werk, das den Tinnitus antriggert und das nötige Geld für die Medizin dagegen generiert. Diese Spielregeln darf man niemals verraten, ansonsten zerstört sich der Literaturbetrieb von innen und die Büchertische erschienen leer, da die feilgebotenen Bestseller durchsichtig würden, vollkommen durchsichtig, leer, als wären sie gar nicht vorhanden. Dasselbe geschähe dann mit der gesamten Architektur aller Städte: die Gebäude wären optisch verschwunden, die Augen schauten hindurch, als wären sie Luft. Das NICHTS wäre endlich zu sehen. Die Menschen blieben mit offenen Mündern stehen und staunten: da ist nichts. Alles weg, obwohl DA. Von diesem Scheinparadoxon und seinen Folgen für das Schicksal des angeblichen Autors handeln die seltsamen Geschichten, die in den folgenden Kapiteln für die Nachwelt festgehalten werden sollen. Es geht um das unendliche Nichts, das sich als ALLES darstellt. Oder wie die Physiker sagen: als das uns bekannte Universum. Ob diese Kapitel geschrieben werden, weiß keiner. Aber das ist schon mehr als zu erwarten war.

 

Autor: Tom de Toys, 12./13. November 2021 - zur Originalquelle hier (Homepage des Autors)

Hervorhebungen (fett bzw. kursiv) und Absätze entsprechen der Erstveröffentlichung des Autors.

 

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