In meiner Zeit der Desillusionierung und Verzweiflung, in der ich mir die Schuld am Scheitern meiner Ehe und diversen "falschen Träumen" gegeben habe, weil ich nicht stark genug,
liebevoll genug, oder es einfach nicht wert war, bin ich in die Therapie gegangen. Psychoanalyse nach Sigmund Freud. Von der spirituellen Suche in die Analyse. Oder war es so? Ich lag auf einer
Couch, der Analytiker saß für mich unsichtbar hinter meinem Kopfende in seinem Sessel. Dreimal die Woche je fünfzig Minuten ein paar Jahre. Es war an mir zu reden, mich zu zeigen, auszupacken,
meine Karten offen auf den Tisch zu legen. Was ging in mir vor jetzt! Wer hört mir zu? Ich sehe niemanden, der mir zuhört, der Analytiker redet kaum, nur ab und zu ein "aha, mhm". Ich
begann mir selbst zuzuhören, ich wurde ein guter Redner und mein bester Zuhörer. Ich hörte auf, mich zu schämen für das, was in mir vorging, der Zuhörer hörte auf zu bewerten, was er da hörte. Es
entstand der Beobachter. In dieser neuen inneren Instanz fühlte ich Freiheit, das zu sehen, was ist. Auch wenn es in der Vergangenheit ruhte, so sah ich es doch immer im Jetzt. Nachdem mein
Stundenkontingent bei meinem Analytiker aufgebraucht war, nahm ich den Beobachter mit. Er war und ist in mir. Ich wurde der Beobachter. Diese Instanz dehnte sich so sehr in mir aus, dass ich
immer in Beobachtung war. Dies nicht zu verwechseln mit Selbstkontrolle, denn es wurde nichts zurückgehalten oder verändert, es wurde alles, was mich betraf, so gesehen wie es ist, aber alles war
dabei zulässig. Auch das Elend nahm weiter seinen Lauf, der Beobachter gab keine Kommentare ab wie etwa "tu das jetzt nicht" oder "tu es". Obwohl es
manchmal eine leise Ahnung gab, aber die kam von woanders. Egal was grad in meinem Leben geschah, ob ich in einer Beziehung war oder allein lebte, ob ich bei der Arbeit oder im Urlaub war
oder was auch immer: da war immer das, was jetzt ist, und der Beobachter, der alles parallel 24/7 miterlebt, aber auch unbeteiligt geschehen lässt. Dieser Beobachter hat mich studiert,
alle meine Bewegungen und Regungen, Bedürfnisse, Reaktionen und Aktionen, all meine Gedanken, Bewertungen und Gefühle, immer. Ich hatte auch keine Wahl, es war einfach so. Ich konnte es nicht
mehr abstellen. Ich sah durch den Beobachter, dass sich alles wiederholt und dass diese Wiederholung mein Ego und mein Verstand waren, die immer wieder das Gleiche tun und denken und immer wieder
die gleichen "Gefühle" auslösen, auf die ich dann immer wieder auf die gleiche Weise reagierte. Ich war das Bild, das ich mir von mir selbst gemacht hatte. Eine perfekt durchgestylte
Illusion, die sich in die Illusion meiner Umgebung als Darsteller perfekt einfügte. Alles war meine Schöpfung, aber ich erschuf sie nicht als wahrer Schöpfer sondern aus der Illusion
heraus. Das Haus musste zusammenbrechen, die Statik war auf falschen Grundlagen berechnet. Game over...
AUTOR: Thorsten Johst, 2017
LEKTORAT: LDL (kleine Korrekturen und orthografische Abweichungen vom Original sowie kursive/fette Hervorhebungen)