"ES KOMMT AUF DIE STRAßE"

4) Das Allein-Sein und All-Einsein

 

Ich war allein, lebte allein, ungebunden, ein paar fortlaufende Aktivitäten wie mein Job und kreatives Gestalten von Musik, für mich allein, aber auch mit Freunden, regelmäßiger Radsport, alles sehr unkompliziert. Eine einfache Struktur für meine Energie, um sich zu entfalten. Die meiste Zeit blieb ich für mich. Ein bewusstes Experiment. Ich sehe mich immer durch den Beobachter, so wie ich bin. Kann ich mich auch lieben, so wie ich bin? Nicht im Außen, da wollte ich nicht mehr geliebt werden. Ich hatte genug davon. Für eine Weile wird man von jemandem geliebt, solange die Person noch unter der Illusion steht, ich wäre so wie es ihre Illusion vorschreibt. Als jemand, der vortrefflich in den Film des Anderen passt, was dann wiederum kurzzeitig ein Glücksgefühl erscheinen lässt, bis klar wird, ich bin beim Casting irgendwie durchgekommen, bin aber tatsächlich untauglich für die Rolle und habe mir nicht einmal die Mühe gemacht, das Drehbuch zu lesen. Nein danke, das kann nicht Liebe sein, das kann es nicht sein. Es ging also um Liebe und um mich, aber könnte ich mich lieben, so wie ich bin? Ohne eine Bestätigung da draußen? Also rückhaltlos, bedingungslos, absolut? Und wenn es in diesem Experiment darum geht, mich so zu lieben wie ich bin, wie bin ich denn? Was werde ich denn bedingungslos lieben, was genau ist dieses Ich, Mich, Selbst...? Ist da eine Definition? Ich bin mir selbst gegenüber definierbar? Und was innerhalb dieser Definition ist, werde ich dann bedingungslos lieben? Wer spricht diese Definition denn aus, wer ist das, der da sagt: Du bist so und weil Du so bist, liebe ich Dich, so wie Du bist? Das Experiment wurde spannend, ich hatte keine Ahnung wie es ausgehen würde oder ob es überhaupt eine reale Auflösung gab. Alles so kurz zusammengefasst, denn jetzt interessiere ich mich nicht für meine eigene Geschichte. Sie ist mir egal. Ganz nett manchmal dran zu denken, aber im Grunde völlig egal... - was ist geschehen? Die Frage, die ich mir stellte, war ja: "Kann ich mich selbst bedingungslos lieben?" Kann ich mir selbst das geben, was ich immer außerhalb von mir gesucht habe, in einer Beziehung z.B. - ist das möglich? Mir war klar, was ich nicht mehr wollte, aber gab es, was ich wollte? Und was war das eigentlich, was ich wollte? Konnte ich mir das vorstellen? Gab es selbst hier wieder eine Erwartung, ein Konzept? Ging es überhaupt um mich? Ist das nicht wieder eine alte ichbezogene Anhaftung in neuer spiritueller Verpackung? In meinem selbstgewählten Einsiedlertum gab es so einiges: Einsamkeit und Depression und nicht zu wissen, wie es weitergeht. Ich ließ alles geschehen. Wie gehe ich mit meiner Zeit um? Oft tat ich nichts, dann ging es um den nächsten Kick, dann um kreatives, künstlerisches Ausdrücken, dann wieder absolute Faulheit, alles loslassen, dann kamen wieder Wünsche und Träume und Zielsetzungen, dann der Wunsch nach dem nächsten Kick... alles drehte sich im Kreis, wiederholte sich innerlich, genau wie vorher. Ein Kreislauf, der beobachtet wurde, zugelassen wurde, studiert wurde, seinen Reiz verlor... Keiner redete mir rein; oder besser: es gab niemanden, der sich darüber empörte, dass ich nicht in die Illusion passte. Nur ich und der Beobachter. Irgendwann kam das "Mir ist alles egal". Auch das wurde beobachtet. Es gab auch keine höhere spirituelle Motivation wie z.B. "ein guter Mensch" sein zu wollen, "das Richtige" zu essen oder zu tun. Auch dieser Motivationsverlust wurde beobachtet. Ich hatte mich durch meine Talente, Gedanken und Gefühle definiert, mir eine Persönlichkeit erschaffen, die da sagte: "Das bin Ich". Aber das erschien mittlerweile sinnlos. Ich stürzte mich dann doch nochmal in den Beziehungswunsch und fing an zu daten. Aber es kam in mir keine Liebe auf. Es war schön mit jemanden auszugehen, aber schon am nächsten Tag war es komplett bedeutungslos. Auch das wurde stillschweigend beobachtet. Dann kam eine Phase des kreativen Schaffens: Ein Musikstück pro Woche komponiert, arrangiert, produziert und aufgenommen. Schlaf? Egal, dazu hab' ich gesoffen wie ein Loch, egal: es wurde beobachtet. Auch die Kopfschmerzen und Schuldgefühle am nächsten Morgen wurden beobachtet. Und egal, was ich fühlte, allmählich bemerkte ich, dass dieser Beobachter nichts bewertete. Ich tat das, aber der Beobachter nicht. Einfache und schlichte Wahrnehmung dessen, was ist, das war sein Business. Meins war hingegen, alles zu bewerten, zu kämpfen, mich durch meine verzweifelten Gebärden zu definieren, ein Bild zu erzeugen, das ich geliebt wissen wollte... all das, obwohl ich allein war. Ich wollte es für mich aus mir heraus lösen - aber wie?

 

AUTOR: Thorsten Johst, 2017
LEKTORAT: LDL (kleine Korrekturen und orthografische Abweichungen vom Original sowie kursive/fette Hervorhebungen)

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