"Der Prozeß, der dich zum Erleuchteten macht, ist ein vorsätzlicher Akt der Selbstvernichtung. Es ist das falsche Selbst, das die Aufgabe des Tötens übernimmt, und es ist das falsche Selbst,
das dabei stirbt - ein Selbstmord in jeder Hinsicht, nur nicht physisch. Da es kein wahres Selbst gibt, um die Lücke zu füllen, die durch das Hinscheiden des falschen Selbst entsteht, bleibt
überhaupt kein Selbst zurück. Somit stimmt es, wenn man sagt: Das Nichtselbst ist das wahre Selbst."
Jed McKenna, SPIRITUELLE DISSONANZ (2007)
"Wenn unsere Neurologen schon zugeben, daß sie das Gehirn nicht verstehen, ist es dann nicht möglich, daß das Gehirn – und das Nervensystem als Ganzes – klüger ist als der bewußte Intellekt?
Denn dieser ist nur der partielle Gebrauch des Gehirns, gebunden an einen schwerfälligen Prozeß linearen Denkens, das ohne langes Erwägen nicht mehr als einige wenige Variable zu einer Synthese
vereinigen kann. Aber das Gehirn reguliert Tausende von körperlichen Vorgängen gleichzeitig, ohne über sie nachdenken zu müssen, und das – nicht die Persönlichkeit – ist das Selbst."
Alan Watts, ZEIT ZU LEBEN (1972)
"Um diesen 'Standard' aufrechtzuerhalten, sind die meisten von uns bereit, ein Leben hinzunehmen, das vorwiegend darin besteht, mit langweiligen Betätigungen genügend Mittel zu erwerben, um
in der Zwischenzeit hektischen und teuren Vergnügen nachzugehen, die vorübergehende Erleichterung der Langeweile mit sich bringen. Diese Unterbrechungen hält man für das richtige Leben, für den
eigentlichen Zweck, dem das notwendige Übel der Arbeit dient."
Alan Watts, WEISHEIT DES UNGESICHERTEN LEBENS (1951)
Am Anfang war der allererste Punkt, ein noch nicht wahrgenommener Punkt ohne Linie. Ein Punkt ohne Anfang und Ende, ein grenzenloser Punkt. Dieser Punkt war von unendlicher
Ausdehnung und dabei unendlich klein. Niemand bemerkte ihn, er war das Geheimnis aller Geheimnisse und dabei das offensichtlichste Ding auf der Welt. Er befand sich im Zentrum des Universums und
doch auch zugleich überall bis an die Ränder des Seins.
Die Mitte ist überall
Diesen Anfang zu entdecken bedeutet nicht, bis zum angeblichen Urknall zurückzureisen, sondern im Gegenteil: ganz hier und jetzt anzukommen, wo alles noch anfänglich wirkt, weil es nicht mit
etwas anderem verglichen wird, sondern es selbst sein darf. Ganz es selbst. Hier schlummert der eigentliche Uranfang von allem, hier hat das Sein zu sich selbst gefunden und sagt von sich laut
und deutlich "ICH BIN". Wer diesen Punkt in sich selber erreicht, hat eine unsichtbare Grenze überschritten, von deren anderer Seite aus alle Grenzen gesprengt sind. Das "anfängliche"
Urbewusstsein ruht in seiner eigenen Mitte und schaut aus der Leere des ersten Punktes hinaus in die Welt. Alles wird ihm unendlich und einmalig zugleich. Aus der Perspektive des Urpunktes
erscheinen die Dinge allesamt in sich selbst ruhend. Ein jedes Objekt ist die Mitte des Universums. Die Mitte ist gleichsam überall. Sie braucht nicht erst über komplizierte Umwege erreicht zu
werden, sie ist das mystische Moment aller Dinge, das auf der Hand liegt.
Ausrufezeichen und Fragezeichen
Der Zenmeister hält beide Hände weit ausgestreckt, ihm ist die Mitte vertraut wie nichts anderes. Für ihn IST ALLES, er hat keinen Zweifel am Dasein. Darum kann er niemals verzweifelt darüber
sein. Die Lebensphilosophie eines Zenmeisters gleicht einem Ausrufezeichen und alles, was er wahrnimmt, folgt diesem Ausruf, indem es bestätigt: "ICH BIN DA". Für den Selbstmörder
hingegen ist eben genau dieser Ausruf schier unerträglich, er ist einfach total verzweifelt darüber, dass sich nichts weiter als dieser hohle Punkt in der Mitte der Dinge befindet und wünscht
sich nichts sehnlicher als ein überdimensionales Ziel, auf das man sein Leben bauen könnte. Es ärgert ihn auch, mit welcher Gelassenheit der Zenmeister den Dingen entgegenschaut, als wären es gar
keine Fremdkörper sondern Vertraute seines Herzens. Dem Selbstmörder ist alles ein einziges Fragezeichen, er runzelt die Stirn und ruft Gott an und notfalls auch einige Geister, um Orientierung
zu finden in dieser erschreckenden Grenzenlosigkeit. Ihm macht es Angst, daß sich kein Sinn hinter den Dingen offenbart, weil ihm das Universum dadurch als Geheimnis erscheint. Er hat sich die
Mitte des Ganzen in gold glänzend vorgestellt und ist enttäuscht, dass die Religionen nicht halten, was sie versprechen.
Alles ist leer
Der Zenmeister schmunzelt nur freundlich und bietet ihm einen Schluck Wasser an. Wie kann man in solch einer deprimierenden Situation einfach nur Wasser trinken und lächeln? Der Selbstmörder ist
ratlos. Im Innersten all dieser Wassermoleküle ist nichts als die Leere, ein einziger Ozean aus gigantischer Leere - und der Zenmeister ist trotzdem gut gelaunt? Das geht entschieden zu weit!
Selbstmörder trinken keine Leere, sie ertrinken darin! Wer einem Selbstmörder Wasser wie einen edlen Tropfen Wein anbietet, der macht sich wohl lustig über das Ausmaß der kosmischen Tragödie.
Zeigt denn der Zenmeister keinerlei Respekt gegenüber der Traurigkeit, die einem bei dieser existenziellen Sinnlosigkeit überkommt? Und warum schafft es der Zenmeister, bei guter Laune zu
bleiben, obwohl alles leer ist? Der Selbstmörder möchte nicht wahrhaben, dass seine eigenen Zellen aus Leere gemacht sind, er hält an dem Glauben an sein eigenes Ich fest, um das alles kreisen
soll. Für ihn ist das Ich in der Mitte seiner Gedanken genauso selbstverständlich wie die Leere für den Zenmeister. Dass dieses Ich leer sein könnte, erscheint ihm so gruselig wie die Leere des
Universums. Der Zenmeister hingegen empfindet es als das Natürlichste auf der Welt, dass einfach alles im Innersten leer ist, sogar diese Traurigkeit darüber, denn sie ist auch nur ein weiterer
Ich-Gedanke neben den vielen anderen.
Depression und Erleuchtung
Jede Fröhlichkeit und jede Frustration ist im innersten leer, jedes Ja und jedes Nein zum Leben ist leer. Darum schmunzelt der Zenmeister ein wenig verlegen, wenn man ihn fragt, wie er das
schafft, grundlos ja zum Leben zu sagen. Im grunde sagt er weder ja noch nein, sondern gar nichts. Er lässt los von dem Irrglauben seines verzweifelten Ichs und überlässt es dem Leben selbst,
etwas zu sagen. Das Leben sagt selber weder ja noch nein zu sich sondern einfach nur "LEBEN". Es akzeptiert seine Leere mit der Gelassenheit der Planeten, die ihre Runden um eine
ausbrennende Sonne drehen, mit der Gelassenheit der Elektronen, die um einen leeren Atomkern kreisen, mit der Gelassenheit der Gedanken, die sich um ein ichloses Zentrum drehen. Alles, aber auch
alles dreht sich im leeren Kreis. Das wissen sie beide, der Selbstmörder genau wie der Zenmeister. Und darum kennen sie sich nur allzu gut, sie wissen umeinander Bescheid. An manchen Tagen färbt
der Gemütszustand des einen auch schonmal auf den anderen ab und dann meint man, in den ansonsten nur leuchtenden Augen des Zenmeisters die Depression des Selbstmörders zu sehen. Aber auch
umgekehrt kann es geschehen, dass plötzlich ein Lächeln über die Lippen des Selbstmörders huscht, weil ihn die seltsame Erleuchtung des Zenmeisters erwischt. In solchen Sekunden sind sich die
beiden wie Zwillingsgeschwister vertraut, jeder hat echtes Verständnis für den anderen und kann den entgegengesetzten Umgang mit der Leere nachvollziehen.
Die Logik der Gefühlswelten
Der Selbstmörder betrachtet die Leere grundsätzlich von aussen, der Zenmeister normalerweise von innen. Doch jetzt wird der Zenmeister ein bißchen melancholisch und denkt an die Zeiten zurück,
als er noch ein gewaltiges Ich besaß, das unglaubliche Abenteuer zu bestehen hatte - was war das für ein aufregendes Leben im Gegensatz zur erleuchteten Langeweile! Und der Selbstmörder erkennt
plötzlich in aller Seelenruhe, dass diese Langeweile nicht schlimm ist sondern der Urgrund des Universums, auf dem die gesamte Welt aufgebaut ist. Zum ersten Mal in seinem Leben ergreift ihn
beinahe schon eine Art Euphorie und er wundert sich über sich selbst, wie entspannt er bei diesem Gedanken doch bleibt. Die Leere, die Langeweile, die Lustlosigkeit - sie verlieren die Dramatik,
mit der sie ihn eben noch zu Boden niederschmetterten. Augenblicklich tritt eine Urruhe ein, die ihn bislang ziemlich genervt hatte. Erst jetzt kann er das Lächeln des Zenmeisters erwidern und
nachvollziehen, wieso alles leer sein darf, ohne das Leben zu bedrohen. Zum ersten Mal in der Geschichte führen die beiden ein herzliches Gespräch miteinander und tauschen sich über ihre
verschiedenen Positionen aus. Während der eine sich völlig verzweifelt an seinem Ich festklammerte und der andere gar kein Ich benötigte, sehen sie nun beide das Leben mit den Augen des anderen
und gestehen sich ein: ja, so fühlt es sich an, wenn man ein Selbstmörder ist. Und ja, so fühlt sich das Leben als Zenmeister an. Beide Gefühlswelten sind logisch erklärbar und haben ihr Recht.
Aber auf einmal tauchen nun beide ganz ein in das Gefühl des Anderen.
Freunde fürs Leben
Der Zenmeister kann wieder traurig sein über die Vergänglichkeit aller Dinge, und der Selbstmörder hat keinen Grund mehr, sich umzubringen, weil er die bedingungslose Leere seines eigenen Ichs
radikal spürt. Beide haben etwas vom Anderen gelernt und sind dankbar, sich näher kennengelernt zu haben. Anscheinend werden sie sogar Freunde fürs Leben; denn sie besuchen sich von jetzt an
gegenseitig: der Zenmeister macht Ausflüge in die Psychiatrie und verbringt einige Tage mit seinem depressiven Freund dort, um gemeinsam die Leere als Traurigkeit zu ertragen. Und der
Selbstmörder besucht seinen erleuchteten Freund in dessen Tempel, um dieselbe Leere als natürliche Langeweile zu zelebrieren. So teilen sie diese große, unendliche Weite miteinander mal so und
mal so, je nach Bedarf. Und sind glücklich, einander gefunden zu haben. Das Leben in Freundschaft macht fortan für beide einen erstaunlichen neuen Sinn, der sie vergessen lässt, was ihr
ursprüngliches Problem eigentlich war. Und so werden sie tatsächlich alt miteinander und teilen am Ende dasselbe Schicksal: den natürlichen Tod.
AUTOR: Tom de Toys, 2015
Erstveröffentlichung für die LDL.
Die Rechtschreibung wurde angepasst.