"Es ist bewiesen, dass das Verlangen nach Drogen und Alkohol eigentlich die unerkannte Sehnsucht nach Transzendenz und Ganzheit ist. Viele genesende Menschen erzählen von ihrer rastlosen
Suche nach irgendeinem unbekannten Element oder einer fehlenden Dimension in ihrem Leben und empfinden das frustrierende, zuweilen überwältigende Verlangen nach Drogen, Alkohol, Essen, Sex oder
anderen Suchtobjekten als ein fortwährendes, fehlgeleitetes Bemühen, diese unerfüllte Sehnsucht zu stillen. (...) Überdies tendieren Dogmen und Aktivitäten der Weltreligionen eher zu einer
Verschleierung der Tatsache, dass der einzige Ort, an dem wahre Spiritualität gefunden werden kann, in unserer Psyche ist."
Stanislav Grof, DIE PSYCHOLOGIE DER ZUKUNFT (2000)
"Das, worauf wir Vorläufer und Pioniere aus den avantgardistischen Randgruppen so lange gewartet haben, passiert jetzt: Spiritualität hat den Marsch durch die Institutionen angetreten. Eine
spirituelle Praxis zu haben und ganzheitlich zu denken ist heute auch den etablierten 'Trägern der Gesellschaft' kaum mehr peinlich, fast ist es schon chic. (...) Die Inhalte dort verhalten sich
zur echten Spiritualität aber ungefähr so wie Pornografie zur Erotik. (...) Die Spiritualität ist auf ihrem Weg zur Mitte der Gesellschaft zur Popspiritualität geworden. Einen Großteil von dem,
was diese Bewegung als Randgruppenphänomen ausmachte, hat sie behalten: ihre Themen, ihren Jargon und viele ihrer Formen. Aber sie hat dabei das Wichtigste verloren: ihre Essenz. (...) Habe viele
Jahrzehnte in diesen Szenen und Subkulturen gelebt und sie mit promotet. Und doch fehlt mir da bei ihren heutigen Nachahmern die Essenz. Dass aus Spiritualität Kommerz und Mode geworden ist,
empfinde ich als Verlust. Für mich ist es der Verlust der Hoffnung auf eine wirklich neue Welt, auf die echte Revolution, den wirklichen Frieden, das tiefe Glück."
Wolf Schneider, Connection Verlagsrundbrief 110, April 2013
Durch Bewusstwerdung des Todes die Sucht nach dem nächsten Kick als Secondhand-Spiritualität überwinden und ein Leben ohne Retreats und Rotwein beginnen - frei von Sehnsucht!
Es gibt ein sehr menschliches Bedürfnis, sich von den tieferen Fragen nach dem Sinn des Lebens abzulenken, wenn die Frustration über ausbleibende Antworten größer ist als die
Wahrscheinlichkeit, irgendwann doch noch auf eine "letzte" Antwort zu stoßen. Dann greift der Mensch in seiner Enttäuschung zur Flasche und hofft, dass der Rausch eine ähnliche Glückswirkung auf
das Gemüt hat wie die vermisste Ekstase der großen Erkenntnis. Aber vielleicht handelt es sich bei dieser spirituellen Sehnsucht um ein gewaltiges Missverständnis, das durch esoterische
Schundliteratur geschürt wurde.
Seelischer Peilsender
Wer immer nur Bestseller mit Erleuchtungsrezepten konsumiert, tappt in die Falle des Aberglaubens an ein elitäres Ziel für wahrhaftig Eingeweihte und überhört dabei immer mehr seine innere
Stimme, die das Geheimnis des Lebens längst gelüftet hat. Diese feine Intuition braucht weder Lektüre noch Ablenkung durch Drogen, denn sie schaut direkt ins mystische Gesicht des Seins und macht
sich ein eigenes Bild vom Ganzen. Wer in Kontakt mit seinem seelischen Peilsender steht, der durchschaut all die Masken und Fratzen, die auf dem Marktplatz des Spirituellen feilgeboten werden,
denn er hat einen eigenen Zugang zum Sein, dessen wahres Gesicht ein leerer Spiegel ist.
Kiosk und Klischees
Die Gesichtslosigkeit des Ganzen lässt sich allerdings nicht verkaufen, weshalb man im esoterischen Supermarkt keine Informationen darüber vorfindet. Die spirituellen Regale sind randvoll gefüllt
mit einer ebenso brutalen Ablenkung wie der Kiosk mit Spirituosen. Ob du zu tief in die Flasche schaust oder zu tief in die kitschigen Klischees der popspirituellen Götter- und Geisterwelten, ist
eigentlich egal - beide Manöver lenken dich ab von der Meditation über die gesichtslose Leere! Es bedarf einigen Mutes, um den Verlockungen nicht zu verfallen oder wieder zu entsagen, je länger
man sich in der einen oder anderen Szene schon aufhält. Dank Spirituosen und Spiritualität findet man schnell neue Freunde, mit denen man ein gemeinsames Lebensgefühl teilt und sich gegenseitig
verschleiert, wie fürchterlich entfremdet man von der eigenen Seele dahin vegetiert. Von Flasche zu Flasche, von Workshop zu Workshop. Was dem einen sein Rotwein, ist dem anderen sein Retreat.
Man ist beschäftigt und hat immer ein Gesprächsthema. Das Leben im Ablenkungsmanöver ist das reinste Schlaraffenland. Bis zum Tod.
Schlund der Unendlichkeit
Erst auf deinem Sterbebett dämmert dir plötzlich, dass du noch nie damit angefangen hast, selber das Leben nach Antworten zu befragen. Dein ganzes verdammtes Leben lang hast du dich in einer
Secondhand-Spiritualität eingelullt und konntest dich immer kompetenter über Rotweinmarken und Retreatmeister unterhalten. Du warst irgendwann automatisch ein Profi und durfest dann selber den
Geist aus der Flasche und die Geister der Fastfoodliteratur zu erstaunlichen Preisen anbieten. Je edler der Tropfen, je esoterischer der Trost, desto teurer das Hochglanzprodukt! Eine gewaltige
möchtegern-integrale Industrie für all die suchenden Seelen, denen kein Lehrer je beigebracht hat, wie man tatsächlich in sich hinein horcht, um in der Stille des inneren Friedens so anzukommen,
dass kein äußeres Produkt als Ersatz nötig wird. Jetzt, auf deinem Sterbebett, bist du gezwungen, von all diesem Hokuspokus loszulassen. Hier hilft keine Verdrängung mehr weiter, hier lassen dich
alle Weisheiten im Stich. Du stehst dem Leben im letzten Atemzug von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Und dieses Gegenüber verwandelt sich endlich in den entleerten Spiegel. Du schaust durch
deine eigenen Augen hindurch in den pechschwarzen Schlund der Unendlichkeit und landest auf keiner anderen Seite, sondern kommst bei dir selbst an. Ein Selbst, das nun endlich kein Gesicht mehr
benötigt, ein projektionsfreies Selbst, dem die letzten Masken vom Fleisch gerissen wurden und darunter die Leere höchstselbst zum Vorschein kommt. Kein Rotwein der Welt und kein Retreat auf
keiner noch so schönen Insel kann dir das geben, was dir die Erwartung des Todes schenkt: echte Freiheit anstatt dieser Gier nach dem nächsten Kick!
Taoistische Nüchternheit
Du "wohnst" nicht nur als eingebildete Seele in deiner Haut, sondern du BIST deine Haut, deine Knochen und grauen Zellen. Du BIST das vergängliche Mysterium selbst, dein gesamtes Sein besteht aus
der unendlichen Leere des geheimnislosen Rätsels, genannt LEBEN. Wenn du jetzt nochmal von vorne beginnen dürftest, bräuchtest du weder Spirituosen noch Spiritualität. Alles wäre unendlich
leichter, obwohl es das Gegenteil der erhofften Erlösung ist: nicht die neurotische Sehnsucht wurde gestillt, sondern die Sehnsucht an sich wurde zersetzt, aufgelöst, in der ganz nüchternen
Ekstase der Ankunft im Ganzen verpufft. Diese Fatamorgana des Leidens an der angeblichen Entfremdung vom Göttlichen verschwand einfach bei Sonnenuntergang und im Leuchten des Vollmondes erstrahlt
die gesamte Landschaft in einer kühlen Klarheit, die jedem Gott abschwört und sich vor dem Leben selber verneigt. Dieses zerbrechliche Leben, dessen Moleküle im Innersten leer sind, ist selber
die erleuchtetste Weisheit, die es zu entdecken gilt. Jeder Reis, der gekocht wird, jede Liebe, die "gemacht" wird - alles atmet die Leere und die Unendlichkeit. Das Tao ist immer und überall, es
ist grenzenlos wie das Weltall, du kannst nirgendwo außerhalb des Taos sein, es ist eins mit dem Weltall. Wenn du aufhörst, dich davon abzulenken, lenkt dich das Leben befreit von der Sucht und
der Sehnsucht selbst, und das Lachen kehrt zu dir zurück...
DRUCKVERSION DES ARTIKELS IM MAGAZIN "CONNECTION SPIRIT" (MÄRZ 2015):
http://www.connection.de/index.php/magazintexte/spirits/1956-spirit-3-4-15