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Lesetipp: Artikel über das kleine & große Wunder inspiriert

durch die neue Video-Reihe "NONDUALE ANALOGE DIALOGE"

zwischen der Coachin Dorothee Dickmann & Tom de Toys

 

1. Gastautoren-Interview: Tom de Toys

TRANSPERSONALES TRAUERTAXI

 

Hallo Tom, wir möchten die Interview-Reihe über unsere Gastautoren mit Dir eröffnen, da Du bis heute die meisten Beiträge geliefert hast. Gerade Dein topaktueller Essay "DAS GEREDE VOM GÖTTLICHEN" zur so genannten Ichlosigkeit ist wieder wunderbar frisch und ehrlich geschrieben und vermittelt das Thema auf unspektakulärer Augenhöhe statt so zu tun, als bedeute solch eine Wahrnehmung, ein Mensch wäre dann weniger neurotisch oder gar erleuchtet und was so alles sonst noch an spirituellem Klischee gerne abgeleitet wird. Wie lässt sich diese Ichlosigkeit mit Deinem derzeitigen Job als Chauffeur für Trauergäste auf dem Düsseldorfer Nordfriedhof vereinbaren? Entstehen dadurch womöglich ganz neue Probleme im Umgang mit anderen Menschen oder ist es sogar hilfreich, um mit den Gefühlszuständen der Trauernden besser klar zu kommen?

 

Vielen Dank für die Einladung zum Interview. Da ich gerade selber ein Interview mit einem Ichlosen geführt habe, dem lieben Andreas Müller (timeless wonder), weil er den diesjährigen Nahbellnebenpreis "für den unerwarteten Essay" verliehen bekam (siehe www.poesiepreis.de), kursieren in meinem Kopf anscheinend sehr viele Gedanken zu diesem Thema. Die Frage nach "Problemen im Umgang mit Menschen" ist ebenso absurd wie die Frage nach dem "Klarkommen mit Gefühlszuständen" wie der Trauer meiner Fahrgäste. Der springende Punkt ist ja, dass nur diese abstrakte Ich-Instanz, die uns gesellschaftlich anerzogen wird, alles problematisiert und dann versucht, mit der Welt klarzukommen, die nicht in die Kategorien passt, über die sich das Ich im Laufe seines Lebens definiert hat. Sobald diese abstrakte Stimme im Kopf nicht mehr redet, gibt es niemanden, der ein Problem hat und mit den Geschichten anderer Menschen klarkommen muss. In der transpersonalen Psychologie spricht man von Disidentifikation, was aber nur zur Hälfte stimmt, denn wenn das Ich verschwindet, wird deutlich, dass es nie jemanden gab, der sich (von "sich selbst") disidentifizieren musste. Bereits als Betreuungskraft in Pflegeheimen warnten mich die Leiter der Sozialdienste davor, mich nicht zu empathisch auf die Bewohner einzulassen, weil man deren Geschichten nicht mit nach Hause nehmen soll. In der Freizeit soll man sich ja von der seelischen Belastung erholen. Aber wenn gar kein "seelisches" Ich in Deinem Denkzentrum sitzt, das von den Dramen der Lebensschicksale traumatisiert werden könnte, besteht eine unglaubliche Freiheit, total entspannt und offen zu kommunizieren & interagieren, sodass es von außen betrachtet wirkt, als empfände man für Fremde wie für Freunde oder eigene Familienangehörige, was man eben nicht soll, damit man zuhause wirklich abschalten kann. In Wahrheit fehlt einfach diese ankonditionierte Schranke im Kopf, die dem Ich wie ein Seismograph anzeigt, ob es von einem Erlebnis über- oder unterfordert ist. Niemand ist mehr gefordert, das Leben an sich spielt sich selbst in den unterschiedlichsten Rollen, um sein namenloses Theaterstück tagtäglich aufs Neue zu zelebrieren. Mit dem Tod kam ich daher in Pflegeheimen auch schon problemlos in Berührung. Denn manch ein Bewohner wollte kurz vorm Ableben keinen Pfarrer sehen, sondern rief nach mir, um alle tabulosen Fragen laut auszusprechen, die man einem Geistlichen nicht zumuten will, da man ihn erstens nicht pietätslos beleidigen möchte und darüber hinaus gar keine ehrliche Antwort erwartet, sondern nur religiöse Ideologie. Diese tabulose Offenheit ohne Ichzentrale führt dazu, dass in der Wahrnehmung eine RADIKALE RESILIENZ gegenüber allem waltet, das ansonsten vom Ich verdrängt und sublimiert werden muss, um dessen eigenes Kartenhaus vor psychischen Orkanen zu schützen. Im Dienstwagen, wenn ich Trauergäste hinter der Prozession zum Grab her fahre, und nachmittags, wenn ich Grabbesuchern zur Seite stehe, lässt sich ohne die neurotischen Projektionen des Ichs absolut mühelos HÖFLICHKEIT & HILFSBEREITSCHAFT als sozialer Service eines Chauffeurs anbieten, ohne sich durch "auffällige" Verhaltensmuster ablenken zu lassen, die Menschen nunmal aufgrund ihres Lebenswandels in Ausnahmesituationen entwickeln. Die mir entgegengebrachte Freude und Dankbarkeit meiner Fahrgäste in all ihrer emotionalen Not (wie z.B. dem plötzlichen Verlust des Partners oder der verzweifelten Erlösung vom schrecklichen Leidensweg des eigenen Kindes) über die aufmerksame Nettigkeit, mit der sie von mir begleitet werden, zeugt davon, dass Ichlosigkeit ein interessantes soziologisches Instrument sein kann, eine ungeahnte und für kein Ego erlernbare Kompetenz, die tatsächlich helfen kann, keine zusätzlichen Probleme im Umgang mit Menschen zu generieren und von deren Zuständen unbelastet (disidentifiziert!) zu bleiben.

 

Seit wann lebst Du denn ohne das künstliche Ich? Gab es einen Auslöser für die Auflösung? Warst Du davor auf spiritueller Suche nach Erleuchtung und hast viel Geld bei Gurus gelassen - oder war es einfach so genannte Gnade, ohne darum zu bitten?

 

Nun ja, aus religiöser Sicht mag man sowas Gnade nennen, wenn man glauben würde, sich einer höheren Macht anzuvertrauen. Aber ich war schon immer ein "ungläubiger Thomas", der Beweise für paranormale Erfahrungen brauchte. Mein Ekel vor Esoterikern und Sekten war zeitweise so groß, dass ich deren Weltanschauungen in meiner Kunst parodierte, obwohl ich selber bereits als Jugendlicher seltsame Erlebnisse machte, darunter als 16-Jähriger 1984 eine waschechte Outer-Body-Experience, in der mein Geist irgendwo weit draußen im dunklen All zwischen den Sternen schwebte und erstmalig die grenzenlose Offenheit des Universums erblickte. Aus solch einer Erfahrung kommt man automatisch etwas verwandelt zurück; denn die tatsächliche Leere real zu spüren, hat eine völlig andere Qualität als sich nur theoretische Gedanken über den Sinn des Lebens zu machen. Es bedurfte aber weiterer fünf Jahre, bis mir mit 21 etwas geschah, durch das mein Ich einen brutalen Schock erlitt: Am 5. Mai 1989 erlebte ich (nach einer verzweifelten Woche Nahrungsverweigerung und Kiefersperre, wegen der ich nicht sprechen konnte) eine seltsame Auflösungserfahrung, die von mir damals in Performance-Kunst "übersetzt" wurde. Ich nannte die Auftritte LOCH-PERHAPPENINGS und zeigte anhand eines neongrünen Stoffrings, durch den das Publikum hindurch stieg, dass das Loch (die unendliche Leere) eigentlich gar nicht existiert, sondern nur der Rahmen drumherum, der die Vorstellung des Ichs symbolisiert, das solche Erfahrungen nur als Paradoxon nachvollziehen kann: das Ich erlebte seine eigene Auflösung und Einswerdung mit dem großen Ganzen und wusste seitdem, dass es "eigentlich" nicht existiert, sondern "im Innersten" diese unendliche Leere selber IST und diese darüber hinaus gar nicht existiert, also ein doppelter Plopp-Effekt. Da das Ich aber nicht dauerhaft verschwand, sondern sich von nun an als Mystiker aufspielte, der über diese ekstatischen Dinge zu berichten hat, zugleich aber darunter litt, die erneute Trennung nicht aktiv durch bewusstseinserweiternde Mediationspraktiken für immer überwinden zu können, kam es zu zahlreichen Minipsychosen und psychiatrischen Verdachtsdiagnosen, wie z.B. Borderline-Syndrom und Bipolarer Störung mit dem seltenen Verlauf einer jahrzehntelangen manischen Episode bis zur finalen Depression durch den Jobverlust Anfang 2013, als ich nach nur 1 Monat als Rhein-Taxi-Chauffeur wegen brutaler Wirbelsäulenschmerzen vom zu langen Sitzen in den orthopädisch schlechten Mercedes-Limousinen gezwungen war, den Job zu kündigen. Erst dadurch geschah unterstützt durch Psychopharmaka (Risperidon & Fluoxetin in geringer Dosis) ein erfolgreicher therapeutischer Prozess, um die Amok laufende Stimme im Kopf zu beruhigen. Was die Psychiater und Psychotherapeuten (konventionelle Gesprächstherapie) allerdings nicht wussten, ist dass mein Ich bereits gut vorbereitet war, um endlich für immer zu schweigen: ich hatte kurz zuvor im Rahmen einer Ausbildung zum Kunsttherapeuten 40 Lehrstunden Psychosynthese (nach Roberto Assagioli: 50. Todestag am kommenden 23.8.2024) absolviert und dadurch schon geübt, mich mithilfe der Figur des "leeren Beobachters in der leeren Mitte" von allen anderen Ich-Anteilen zu disidentifizieren. Nur der Beobachter selber musste noch verschwinden und genau das geschah einige Zeit nach der Entlassung aus einer Tagesklinik, als ich mal wieder stundenlang Löcher an die Decke starrte und plötzlich bemerkte, dass sich mein Denken verändert hatte. In mir hatte sich eine Stille breit gemacht, wo normalerweise das Ich unentwegt vor sich her brabbelte und alles, was "draußen" geschah, auf "sich selber da drinnen" bezog. Diese Stimme war einfach verschwunden und mit ihr sämtliche Bedürfnisse, meine Existenz als eine Identität (mit Prestige-Etiketten und Statussymbolen) zu organisieren. Von dem Tag an, vor zehn Jahren im November 2014 (mein damaliger LDL-Gastbeitrag "NAMENFINDUNG & NAMENFREIHEIT" dokumentiert diesen Moment), begann ein neuer Lebensabschnitt, weil diese Künstlerfigur "Tom de Toys" nur noch historische Relevanz hatte, die kreativen/visionären Fähigkeiten aber zugleich noch intensiver und freier aus mir heraus sprudelten. Seitdem habe ich eigentlich erst so richtig Spaß an mir selbst, weil kein Druck mehr auf den Schaffensprozess ausgeübt wird, irgendeine "letzte" Erkenntnis zu formulieren oder eine "letzte" Zeichnung zu malen, die "alles" beinhalten soll. Dieser zwanghaft idealistische Druck, dass ein Werk nur dann Gültigkeit haben könne, wenn es wie eine Weltformel funktioniert, ging ja vom Ich aus, das seine eigene Leerheit darstellen wollte und daran immer wieder aufs Neue scheiterte. An diesem Punkt muss ich den Religionen zu 50% zustimmen, wenn sie sagen, man solle sich "kein Bild" von Gott machen. Die restlichen 50% sind natürlich die vergessene Wahrheit, dass ALLE "Bilder" (als Metapher für das gesamte sinnliche echte Leben) das Göttliche SIN(N)D, weil alles, was geschieht, diese absolute Wahrheit ist. Für das Ich klingt das nach spiritueller Spinnerei, aber ohne Ich liegt das ganz selbstverständlich auf der Hand. Manchmal blitzt in mir die Erinnerung an den früheren Tom auf, der vom heutigen fürchterlich genervt wäre bei all dem hochtrabenden Gelaber, als hätte er die Weisheit mit Löffeln gefressen. Aber vielleicht wäre er auch darüber neidisch geworden, dass dieser heutige Mensch so entspannt und entschleunigt lebt, hätte ihn für einen Zenmeister gehalten, der "es voll gecheckt" hat, was mich zum Schmunzeln bringt. Jedenfalls war der frühere Tom ein neurotisch schlafloser rastloser hyperaktiver Kreativnerd, der schon das übernächste Projekt vor Augen hatte, während das laufende noch nicht einmal abgewickelt war. Dieser Stress führte auch zu den skurrilsten (und lebensgefährlichen) Krankheitssymptomen, mit denen er damals in einer Spezialklinik landete, Diagnose "somatoforme Schmerzstörung". Wenn ich heute in meinem Therapietagebuch "MEHR JETZT" blättere (www.somatoform.de), in dem der gesamte Prozess von den krassesten Gedankenspiralen bis zur Auflösung der Ichstimme akribisch dokumentiert ist, ahne ich noch, wie extrem anstrengend der Typ für sich selber (und andere) war. Heute sitze ich als gelassener Chauffeur hinterm Steuer und krieche den ganzen Vormittag mit 4 km/h hinter Beerdigungsgesellschaften her, ohne gelangweilt zu sein, lausche dem Vogelgezwitscher, beobachte die Eichhörnchen, bestaune die Blumensorten auf den Gräbern und denke darüber nach, ob der Fleck auf der Windschutzscheibe von einer Taube stammt. Was der frühere Tom noch nicht nachvollziehen konnte: dass die allerletzte größte Weisheit eine Binsenweisheit ist, über die jeder normale, geistig gesunde Mensch verfügt, nämlich das echte Leben als Antwort auf die drei "letzten" Fragen (nach Sinn, Gott und dem Ich) zu erkennen! Das ist so simpel und liegt so nahe, dass der Verstand davon durchdreht, wenn er sich als getrennt vom Leben empfindet. Dabei ist der Verstand eine so wundervolle Eigenschaft des Gehirns, eine erstaunliche Leistung des neuronalen Netzwerks in der Glibbermasse im Kopf, ein viel größeres Fantasy-Spektakel als selbst der verrückteste Science-Fiction-Film! Dieser ganze Planet, unser Mutterschiff "ERDE", ist eine so unglaublich krasse Angelegenheit in den Weiten des Weltraums, dass man sich schon allein davon so fühlt, als träume man ein Märchen, das sich niemand ausgedacht hat. Wer heutzutage mit Handys und Quantencomputern aufwächst, sollte das Staunen nicht vergessen: unser technologisches Know-how ist ebenso ungeheuerlich wie das Beamen im Raumschiff Enterprise, aber wir gewöhnen uns so schnell an die Wunder der Technik, dass wir das Wundern darüber sehr schnell vergessen! Die Banalität des Realen ist das größte Bada Boom, das überhaupt möglich ist...

 

Du sprichst mit einiger Euphorie von der Binsenweisheit des echten Lebens. Gibt es abgesehen von Deinem entschleunigten Job als Friedhofschauffeur im privaten Alltag Dinge, die ohne Ich anders laufen als früher, oder ist alles gleich geblieben? Haben Freunde und Familie Deine Wandlung erlebt, haben sich Menschen von Dir dadurch abgewandt oder sind andere stattdessen neu dazu gekommen?

 

Freunde hatte ich zu dem Zeitpunkt eigentlich gar keine. Ich war aus Berlin weggezogen, wo ich Bestandteil einer Subkultur war, sodass ich kaum merkte, dass ich im Grunde dort nur von Kollegen umgeben war, mit denen man ständig dank unzähliger Kunst- und Literaturprojekte zusammenkam und dadurch immer beschäftigt ("produktiv") war, ohne echte Freunde zu vermissen. Das wurde mir aber erst hier in Düsseldorf bewusst, weil die "Szene" nicht mehr vor der eigenen Haustür begann, sondern nur eine Verkehrsstraße und fremde Nachbarn. Ich war in ein neues Leben inkognito abgetaucht. Nachdem ich mich an diese neue Einsamkeit gewöhnt hatte, passierte die Auflösung des Ichs, wodurch plötzlich alles einen Sinn machte: das Kostüm des überkommunikativen Künstlers hing nicht mehr angestaubt im Schrank, sondern wurde jetzt in der Altkleidertonne entsorgt. Der zur Ruhe gekommene Tom hatte lang genug in seinem stillen Zimmer gesessen und der Uhr beim Ticken zugehört. Die Zeit hatte sich in jenen Jahren allmählich ins Endlose gedehnt. Und die Gedankenschleifen nahmen zu. Vom Berliner Burnout war ich quasi direkt ins Düsseldorfer Boreout gerutscht. Eine waschechte Depression stellte sich ein, was ich erst akzeptierte, nachdem das psychologische Testergebnis (sageundschreibe 7 von nur 3 nötigen der 10 Punkte!) nicht zu verleugnen war, dazu noch ein überflüssiger (und doch gerade darum hilfreicher!) Aufenthalt in einer skandalösen Schmerzklinik, die gar nicht auf die konkreten Symptome ihrer Patienten einging. Dann die Psychopharmaka und die Tagesklinik. Und dann machte es irgendwann völlig geräuschlos in Zeitlupe "plopp" - und der Trottel mit seiner ewigen Unzufriedenheit war einfach futsch, ohne dass jemand es bemerkt hatte! Keiner mehr da, der neben sich stand. Die Augen schauten nur noch aus sich selber heraus, ohne dass dahinter einer saß, der durch sie schaute. Seitdem bin ich einerseits mutiger und andererseits sachlicher geworden. Mutiger insofern, als dass ich oft Wahrheiten brutal ehrlich ausspreche, wo man aus strategischen Gründen lieber die Klappe halten sollte. Dadurch bin ich wohl in den Augen so mancher Menschen eine noch größere Nervensäge als früher! In mehreren Jobs als Betreuer wurde ich damals sogar gemobbt oder gar nicht erst eingestellt, weil mir das "Aktivieren" der Restkompetenzen demenziell veränderter Bewohner wichtiger war (natürlich zeitintensiver und anstrengender) als das schnelle "Passivieren" zum Abhaken in der Pflege-Dokumentation. Neue Männerfreundschaften dank Vermittlung des Herausgebers des ehemaligen Magazins "Connection spirit" gingen wieder zu Bruch, weil ich nichts mit der elitären Geheimniskrämerei von spirituellen Typen anfangen konnte, die genau das vertreten, was ich schon immer lächerlich fand: sich als auserwählte Checker zu empfinden, die ein "nonduales" Geheimwissen miteinander teilen. Mein neuer Mut, so brutal ehrlich zu sein, tausendmal nachzuhaken, damit jemand konkret auf den Punkt kommen muss, immer weiter zu bohren, bis die letzte Lüge enttarnt ist, dieser Mut zur Wahrheit ist ja eigentlich gar kein Mut, sondern einfach die Tatsache, dass da niemand mehr ist, der die neurotische Angst hat, blöd da zu stehen, verstoßen zu werden oder sich selber durch die Wahrheit in Gefahr zu bringen. Damit einhergehend ist aber die zweite Charaktereigenschaft der Sachlichkeit von Bedeutung: ich hatte als junger Mann relativ viele Affären und Beziehungsversuche, war aber unfähig, auf die Kränkungen der Frauen einzugehen, weil mein Ich selber beleidigt war, wenn ich Vorwürfe gemacht bekam. Dieses neurotische Pingpong, bei dem keiner auf den Schmerz des anderen eingehen kann, weil sich beide in ihrem Selbst-Verständnis angegriffen fühlen und darum wie Kleinkinder zanken, wird durch eine sachliche Distanz zu den aufgewühlten Emotionen unterbrochen. Wenn kein Ich da ist, das sich verletzt fühlen muss, wird der Weg frei, um der Meinung des Anderen zuzuhören. Die Neugier, das Interesse und die Freude an der Auseinandersetzung nehmen zu, können weiter geübt und vertieft werden, anstatt dass man nur abblockt und dicht macht, weil jemand einem auf den Schlips getreten ist. Und dort, wo der Mut und die Sachlichkeit fusionieren, können gesunde Gespräche entstehen, in denen Probleme mit unerwartetem Win-Win-Effekt geklärt werden. Das ist viel kostbarer und heilsamer als die narzißtische Rechthaberei, die letztlich in Jähzorn, Gemeinheiten und Lieblosigkeit endet...

 

Inwieweit lässt sich Dein Plopp-Prozess auf andere Menschen übertragen? Gibt es etwas, das Du Anderen raten würdest? 

 

Das ist schwierig zu sagen. Jeder Mensch hat seine eigene Zeit und einen unterschiedlichen Lebensweg. Wenn man in spirituellen Kreisen verkehrt, liest man häufig von Sektengurus sehr ähnliche Steckbriefe. Ähnlich wie in der Kunstszene, wo manche jede noch so unwichtige Ausstellung in einer Arztpraxis oder Bankfiliale in ihrer Vita auflisten, scheint es zum guten Ton eines Erleuchteten zu gehören, eine dramatische Anekdote zu präsentieren, die das Aufwachen als Sensation darstellt, die nicht jedem widerfahren könne. Diese Schmierenkomödien der Biografien vergraulen aufrichtig Suchende oder machen sie zu gehorsamen Schäfchen, die des Gurus heilige Methoden für viel Geld anwenden. Von der Psychoanalyse wird ja dasselbe gesagt: der Patient darf und kann nie gesund werden, die Ursache der Ursache der Ursache des Traumas hinter dem Trauma (die Inflation zu einem willkürlichen Urtrauma hin!) muss immer wieder neu beleuchtet werden, der berühmte "Schatten" wird nicht kleiner, sondern dehnt sich immer weiter aus. Worauf ich hinaus will: das wirklich Unfaire an der Ichlosigkeit besteht ja darin, dass sie vom suchenden Ich nicht herbeigeführt werden kann. Das ist das Paradoxon, das dann nachträglich als Scheinparadoxon erkannt wird. Damit das passiert, macht man sich eben auf den Weg und hofft, dass es passiert, wenn man nur "achtsam" und "demütig" genug betet, meditiert, in die Stille schweigt, dem Guru auf Satsangs lauscht, Yogaverrenkungen übt oder Räucherstäbchen anzündet, wie schon Dorothee Dickmann letztens in ihrem ersten Instagram-Video über Spiritualität kritisch anmerkte. Ich würde sagen, verkehrt ist nicht, einige wissenschaftliche psychophilosophische Bücher zu lesen (z.B. Alan Watts), um besser zu verstehen, was da überhaupt mit einem vorgeht. Darüber hinaus empfehle ich die Technik der Psychosynthese, um die Figur des leeren Beobachters zu entdecken. Aber bei all der Konzentration auf das Bedürfnis "aufzuwachen" sollte man nie vergessen, sich ganz viel Wellness, Sport und tiefenentspannte Körperlichkeit (auch Sex) zu gönnen, da das "spirituelle Suchen" ein urschizophrener Knoten im Kopf ist, der durch den psychischen Stress zu den schlimmsten Krankheitssymptomen führen kann, wenn man den Körper zu sehr verleugnet und vernachlässigt. Man bedenke, dass da am Ende der Körper übrig bleibt, nicht ein erleuchteter Geist, der sich über das Materielle erhebt, sondern die Materie höchstselbst, ohne Wenn und Aber, ohne Hintertürchen zu einer transzendenten Dimension - NICHTS BLEIBT ÜBRIG von der Hoffnung des Ichs, etwas Größeres zu checken, rein gar nichts, noch nicht einmal das Ich selber. Von daher: vögelt, joggt und knallt Euch relaxt zum Sonnenbaden an den Swimmingpool, genießt gutes Essen und guten Schlaf. Haltet Euch einfach möglichst fit, um die Zeit nach der persönlichen Apokalypse noch lange schmerzfrei erleben zu können. Ohne meine neue Hüfte wäre das ganze ichlose Dasein nur halb so schön. Auch wenn da niemand mehr ist, der die Schönheit des Lebens auf sich bezieht: es fällt dem Körper leichter zu leben, je weniger Wehwehchen er produziert.

 

Wenn am Ende der Suche keine erleuchtete Person übrig bleibt, sondern nur die unpersönliche Materie selber, was ist dann überhaupt "Krieg", der doch ohne soldatische Personen nicht führbar wäre? Und wie würde sich ein Ichloser in einer Diktatur verhalten?

 

Ich empfinde diese Fragen als schwierig für die Vorstellungskraft, da sie zwar sehr konkret wirken, aber in echt total viele Abstraktionen beinhalten. Konkret stehen sich ja im Krieg (noch) keine geklonten humanoiden Roboter gegenüber, als gäbe es eine Kategorie namens "Soldat", die in jeder Situation automatische Reaktionen nach sich zieht, sondern da bewegen sich ganz konkrete Individuen (mit Familie und Freunden in ihrer jeweiligen Heimat) tausendfach mit Gewehren, Drohnen, Panzern und radikalen Ansichten über ihren Gegner durch die Landschaft. Würde man die extreme Programmierung im Kopf einfach löschen können, stünden sich ehemalige Feinde als dekonditionierte freie Menschen gegenüber, die nicht mehr wüssten, warum sie die Panzerrohre aufeinander richten. Die Erinnerung im Gedächtnis an die eigene und die fremde Ideologie muss immer aufrecht gehalten werden, um kampffähig zu bleiben. Hat nur eine Partei eine totalitäre Ideologie, dank derer sie angreift, benötigt die andere Partei aber zumindest das Bewusstsein für eigene Werte, die es zu verteidigen gilt. Also in jeden Fall stehen sich an der Front unterschiedliche Wertesysteme gegenüber, die vernichtet werden sollen. In meiner Fantasie stünden sich plötzlich zwei bewaffnete Ichlose gegenüber und schauten sich regungslos tief in die Augen, bis sie sich zuflüsterten: WIR SIND GESCHWISTER DER FAMILIE "MENSCHHEIT" UND LEBEN IM SELBEN HAUS NAMENS "ERDE". LASS UNS BROT & WEIN MITEINANDER TEILEN UND HOFFEN, DASS ANDERE AUCH KEINE LUST HABEN, DEN QUATSCH DER DIKTATOREN ZU VERTEIDIGEN! Das ist leider eine naive, verträumte Fantasie, die in der Realität kaum passieren mag, aber sie zeigt den gewaltigen Unterschied zwischen der Brutalität von Ideologien und der Buddhaschaft von Individuen. In einer Diktatur zu (über)leben, die zwar keine tagtägliche Bedrohung für den einzelnen Bürger bedeutet, aber ein Anpassen des eigenen Verhaltens an die politisch aufoktroyierten Dogmen, stelle ich mir als sehr kompliziert vor, da man wahrscheinlich immer schweigsamer und hilfloser würde, da die freien Gedanken zunehmend gefährlicher wären und man ständig unterdrücken müsste, was man wirklich denkt, sprich: mit den Sinnen WAHR nimmt. Weil nämlich die Sprache, die Wortwahl, die Themen und die Meinungen immer vereinfachter wären, immer weniger spontane, flexible Variationen ermöglichten, immer schneller und umfassender alles pauschal über einen Kamm scheren würden anstatt sich die Realität ganz akribisch genau anzuschauen, wie sie im meditativen Moment der totalen Gegenwart wirklich erscheint. Wenn das Dogma z.B. lautet "Grashalme sind prinzipiell blau", und du zeigst auf einen grünen oder gelb verwelkten Halm mit den Worten "dieser ist grün", landest du im Gefängnis, obwohl es der Wahrheit entspricht, was du gesehen hast. Das erinnert mich an den Roman "1984" von George Orwell, der übrigens am kommenden 25.Juni 121.Geburtstag hätte. Wenn es allerdings nicht mehr nur um die Farbe von Grashalmen geht, sondern um Nachbarn, die deportiert werden, weil sie eine braune Hautfarbe statt brauner Gesinnung haben, bedarf es wohl großen Geschicks und vielerlei Tricks, um etwas gegen die Programmierung in den verbohrten Köpfen zu unternehmen. Die Ohnmacht des Einzelnen ist dann eine konkrete Sache, die nichts damit zu tun hat, ob man die Ohnmacht "persönlich" empfindet oder aus ichloser Warte erlebt, dass dann manch eine Reaktion funktioniert und manch andere nicht. Ichlosigkeit macht ja niemanden zum Heiligen, sondern im Gegenteil: zum 200% der Realität als "absolute" Ausgesetzten, da keine Filter im Kopf mehr dafür sorgen, dass man sich vor der Realität in einer virtuellen Transzendenz verstecken kann. Die rosarote Brille der persönlichen Meinung ist zerbrochen, die Realität leuchtet nun noch viel farbintensiver als auf LSD, aber diese Leuchtkraft des Realen flasht Dich nicht mehr, weil kein Ich mehr nach dieser Ekstase sucht. Also der Grashalm leuchtet zwar neongrün, aber deine Mitmenschen erwarten, dass du ihn als BLAU empfindest. Bislang habe ich dann in normalen Alltagssituationen gesagt: "Wenn das Gras für Dich blau erscheint, empfinde ich das als sehr interessant, da es in meiner Wahrnehmung grün ist. Erzähl mir doch bitte mehr darüber, wie sich dieses Blau anfühlt, damit ich verstehen kann, was Dich am Blau fasziniert." Dadurch eröffnet sich ein Gesprächsraum, in dem aus verfeindeten Positionen ein Austausch entsteht, da die Neugier ermöglicht, sich nicht angegriffen zu fühlen, sondern die eigene Meinung gut darzustellen. Am Ende lässt sich dann sagen: "Ich kann dieses Blau leider trotzdem nicht sehen, aber danke Dir für den Versuch, mir die Farbigkeit näher zu bringen." Der Blaugläubige muss seinen Farbton dann nicht aufs Brutalste verteidigen, weil du ihn in seinem blauen Stolz gekränkt hast, sondern kann dich dann als "jemanden" erleben, der ein offenes Ohr hatte, obwohl er in seinen Augen dahinter grün bleibt. Ob man dann als toleranter Grünseher deportiert wird, lässt sich nicht voraussagen...

 

Ganz lieben Dank für Deine anregenden Antworten! Wir freuen uns über zukünftige Gastbeiträge von Dir und hätten jetzt nur noch eine allerletzte Frage. Wenn Du davon sprichst, dass die Sprache und die Wortwahl in Diktaturen pauschalisiert und vereinfacht werden, fällt uns wieder ein, dass Du häufig in Deinen Texten betonst, dass das Wort "ich" nur eine grammatikalische Funktion erfülle, um vollständige Sätze zu formulieren, nicht aber auf eine eigenständige Entität hindeute. Warum verwendest Du dieses Selbst-Subjekt dann trotzdem noch, obwohl es für Dich keine inhaltliche Relevanz mehr hat?

 

Diese Frage tauchte tatsächlich bereits 2014 in dem besagten Moment auf, als das Denken bemerkte, dass es von diesem psychischen Alien namens "Ich" erlöst war. Das klingt womöglich total durchgeknallt, aber seit der Outer-Body-Experience 1984 waren immerhin ganze 3 Jahrzehnte vergangen, die mit der Kontrolle des suchenden Ichs über die natürliche Existenz durchlitten wurden, was nicht nur ein großes künstlerisches Werk hervorbrachte (dessen Qualität sich durch diese Zwanghaftigkeit/Penetranz nicht unbedingt verringert, immerhin entdeckte ich dadurch die QUANTENLYRIK als sprachlichen Ausdruck für die unendliche Leere!), sondern auch gesundheitlichen Schaden und vorallem ein Leben im Dauerstress. Am Ende des Aufenthalts in der Spezialklinik sagte die Therapeutin 2011 zum Abschied: "Herr Holzapfel, haben Sie etwas MEHR GEDULD mit sich!" Das wurde zum Mantra der Jahre darauf, da das Ich keine Geduld kannte, nur unendliche Unruhe und dauernde Unzufriedenheit mit den gefundenen Antworten auf die Frage nach dem "WAS IST DAS HIER ALLES EIGENTLICH?" Die unerwartete Befreiung der Existenz von diesem psychischen Virus erzeugte im Denken ein seltsames Erstaunen, eine Verwunderung, ein Verblüfftsein darüber, dass GEDACHT WURDE, obwohl niemand mehr als Denker, also als Verursacher und Besitzer der Gedanken auftauchte. Im Denken wurde festgestellt, dass sich die üblichen Ich-Sätze nicht mehr auf eine innere Person beziehen, sondern auf alles, was in der Reichweite der Wahrnehmung liegt. Das Wörtchen Ich ist seitdem ein unendlicher Durchlauferhitzer für alle sinnlichen Eindrücke, die den Augenblick gestalten, also total offen und flüchtig wie Sand, der sich beim Rieseln an die Form anpasst, über die er hinweg rieselt. Diese Form ist die gesamte Realität und das Ich ist wie Wasser, das sich durch die Realität schlängelt und die Form der jeweiligen Gegenwart annimmt. Von daher ist es nicht falsch, einen Satz mit dem Wort Ich zu beginnen, obwohl die meisten Menschen davon ausgehen, man erzähle dann etwas über "sich selbst". Dass diese tiefenpsychologische Vorstellung eines "Selbst" nicht gemeint ist, spielt zum Glück keine Rolle in der Kommunikation, aber andersrum ist es so, dass der kompliziertere Satzbau ohne Ich zu Irritation führen kann. Wie man an dieser Antwort erkennen kann, wurde das Selbst-Subjekt in allen Sätzen vermieden. Es gab zwischendurch über all die Jahre hinweg immer wieder Impulse, das immer so zu versuchen, aber ganz ehrlich: im tagtäglichen Smalltalk übernimmt der Sprechreflex automatisch die Gepflogenheiten der Sprache. Außerdem kann ichlose Grammatik sehr gestelzt und abgehoben wirken, in den richtigen Kreisen gar als Erkennungsmerkmal für Erleuchtung fungieren. Dann wird man noch zum Guru erklärt, bevor man flüchten kann. Und der angeekelte Fluchtimpuls war bei Tom immer sehr stark. Den besserwisserischen Buddha könnte sein schauspielerisches Talent nur als Satire bringen, niemals aber ernst gemeint, denn: WER wollte das ernsthaft vertreten, wo niemand ist!

 

Das Interview wurde im Juni 2024 geführt.

Hervorhebungen (fett/kursiv) durch die LDL.

Die Job-Website des Autors: www.FRIEDHOFSFAHRER.de

 





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