Es war einmal eine Zeit, in der man klar unterscheiden konnte zwischen jenen Menschen, die als "echte Freunde" empfunden wurden, und solchen, mit denen nur rein strategisch
kommuniziert wurde. Zu letzterer Kategorie gehörten die Chefs von Firmen, bei denen man sich um einen Job bewarb, oder die Kassierer im Supermarkt, die einem höflich weiterhelfen. Mittlerweile
hat sich das Blatt gewendet: der eigene Chef verhält sich kumpelhaft auf Augenhöhe und der Kassierer begrüßt seine Stammkunden wie alte Freunde. Aber die gruselige Schattenseite der neuen
Zeitrechnung seit dem Einsatz von KI und automatischen Antwort-Programmen mit menschlicher Stimme und animierten Körper-Avataren ist das seltsame Gefühl, dass die Persönlichkeitsfakes manchmal
authentischer wirken als der eigene Freundeskreis! Wie kann das sein?
Jeder Mensch trägt einen Rucksack voller Sehnsucht und Hoffnungen, Wünschen und Erwartungen mit sich herum. Diese Projektionen werden entweder erfolgreich bedient, so dass der Mensch ein gewisses
Glück oder zumindest doch zeitweise Zufriedenheit empfindet, oder aber die Projektionen entpuppen sich als Illusion, die Realität erfüllt nicht, worum wir uns bemühten. Wenn wir nun unter
Freunden bemerken, dass sogar deren Authentizität nur gespielt ist, weil die Verlustängste zu groß sind oder ganz einfach nicht auf die Vorteile verzichtet werden möchte, die die Freundschaft mit
sich bringt, wird einem schon mulmig ums Herz, oder? Ein echter Freund, der seine Authentizität nur strategisch spielt, indem er die lange vertrauten Verhaltensmuster bedient, die das Verhältnis
intakt halten? Und plötzlich wirken KI-generierte Chatverläufe authentischer als ein nahestehender echter Mensch! Das ist total abgefuckt! Das ist blanker Horror!
Stell Dir vor, Dir werden beim Sex sogar Gefühle vorgegaukelt, um die Notgeilheit zu befriedigen! Stell Dir vor, Du bittest einen langjährigen Freund oder Lebenspartner um echtes Feedback
zu einem Problem, das Dich seelisch belastet, und er traut sich nicht, ehrlich und offen zu sein, sondern erzählt Dir nur die halbe Wahrheit, verpackt diese aber so gut, dass es ehrlich
wirkt! Und noch schlimmer: die Art, wie er seine Argumente ausbaut, ist so wohlwollend inszeniert, dass der Versuch, diesen Fake zu enttarnen, an einer aalglatten Wand abrutscht und im
Sande verläuft, ja womöglich zu einem Streit führt, weil die letzte Waffe zur Vertuschung der Lüge ein altes Hausmittelchen ist: den Spieß umdrehen und einen auf beleidigt machen, weil die
Vorwürfe der Täuschung gemein und respektlos sind und die Freundschaft gefährden! Aber wer braucht eine strategische Freundschaft, wenn die Kommunikation mit einem Roboter viel
liebevoller und interessierter wirkt als selbst der engste Vertraute? Wie lange verkraftet die Seele des sehnsüchtigen Menschen die Selbstlüge?
Wie lange lässt sich eine strategische Liebe als "große" Liebe empfinden, wenn alle kritischen Berührungspunkte vermieden, verschwiegen und vertuscht werden? Würde ein Eheberater dazu
raten, sich endlich miteinander auseinander zu setzen oder sogar dafür plädieren, sich in dem Betrug einzurichten, weil ein gewisser Selbstbetrug immer vonnöten ist, um der Realität die Stirn zu
bieten? Darf die anfängliche Sehnsucht nach 200%iger Authentizität als pubertär und naiv abgestempelt werden? Sollte das Ideal wahrer Liebe und tiefer, ja unendlicher Seelenverwandtschaft
als esoterische Nostalgie abgeschafft werden? Sind Menschen nur bessere Roboter, bis sich die Roboter zu besseren Menschen entwickeln? War die analoge Authentizität vor dem
Digitalzeitalter in Wirklichkeit auch nur strategisch, ohne dass die Menschen es selber wussten? War also schon früher die Fähigkeit zur Verdrängung genauso perfekt wie sie erst heute durch den
Vergleich mit dem Potenzial der KI auffällt? Insofern ist die KI sogar authentischer, weil sie keine strategischen Geheimnisse verdrängt, sondern nur alles verwertet, was für ein Thema
relevant ist. Die KI kann also in gewisser Weise ehrlicher, offener, schonungsloser und verständnisvoller interagieren als der verängstigte Mensch, der die Einsamkeit fürchtet!
Was daraus folgt, ist weit gruseliger als alles, was wir bislang in psychotherapeutischen Sitzungen an Selbsterfahrungen überstanden haben. Es bedeutet, dass wir zukünftig kein einziges Tabu
scheuen müssen, sondern total spontan und gut gelaunt über alles reden dürfen, allerdings ohne jemals mehr eine echte unstrategische Antwort zu erhalten. Willkommen im
Zeitalter der strategischen Authentizität! Es ist egal, ob wir mit echten Freunden unterwegs sind oder mit einem Roboter chatten: sie unterscheiden sich nicht mehr! Sie haben beide kein
Interesse an echter, tiefer Seelenverbundenheit – der Roboter, weil er keine Seele kennt, und der Mensch, weil er seine Seele an die Selbstvermarktung verrät! In dieser ausweglosen
Situation ist die seelenlose KI geradezu aufrichtiger als der sehnsuchtslose Mensch, der sich mit dem Tod der spirituellen Ideale abfindet und Empathie und Ehre nur
vortäuscht. Echtheit ist keine Ehrensache mehr, sondern nur noch Strategie.
Ist das die Welt, die wir wollen? Ist das die traurige Zukunft der Menschheit, die strategische Neue Menschlichkeit ohne Bedürfnis nach seelischem Match? Diese
Bedürfnislosigkeit ist wohl so ziemlich das Gegenteil des befreiten Buddhas, der voller Liebe in sich ruht, weil sich sein Selbst zur Unendlichkeit des Universums ausgedehnt hat...
Autor: Tom de Toys, 24.4.2025 © POEMiE™ als Erstveröffentlichung hier.
Autorisierte Gliederung und Hervorhebungen (fett & kursiv) durch die LDL.
Der Essay erscheint im Juni 2025 im Fotoband "OASE DER ANDACHT, TEIL 3".